Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Ihre Lebenslagen hätten unterschiedlicher nicht sein können, und doch spürte sie eine eigenartige Zufriedenheit.
Der vergangene Monat war herrlich gewesen. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass Strell sie als eine Freundin betrachtete, trotz ihrer unterschiedlichen Abstammung. Die Dorfbewohner hatten sich Alissa stets auf Armeslänge vom Leib gehalten, und ein Freund war etwas, das sie noch nie gehabt und wovon sie auch nicht geglaubt hatte, dass sie es vermisste – bis jetzt.
Strell ging zu einer langsameren Melodie über, die Alissa als jene erkannte, die er seit ein paar Tagen vor sich hin summte. Als sie ihn gestern danach gefragt hatte, hatte er etwas von einem neuen Stück gebrummt und nur gesagt, er werde mit dem Summen aufhören, falls es sie störte. Sie hatte den Fehler gemacht, ihm zu sagen, dass es ihr nichts ausmache. Das hatte er als Erlaubnis aufgefasst, diese Melodie in beinahe jedem wachen Augenblick zu summen.
Doch sie klang beruhigend, und Alissa spürte, wie ihre erwartungsvolle Rastlosigkeit abfiel, während sie dem Auf und Ab der Melodie lauschte. Das Stück wurde gerade zu ihrem neuen Lieblingslied, denn es schien das tiefste Wesen der Berge einzufangen, durch die sie reisten. Strell traf einen falschen Ton, zögerte kurz und wiederholte die letzten Takte. Mit einem unzufriedenen Brummen wechselte er zu einem leichten, flotten Stück.
Alissa schnappte gequält nach Luft, als sie es erkannte. Es war ein Kinderlied über eine Spinne in einem Platzregen und die Tugend der Beharrlichkeit. Strells Töne wackelten, als er sich beherrschen musste, um sie nicht auszulachen. »Möchtest du heute lieber nichts mehr hören?«, fragte er unschuldig und legte die Flöte nieder. »Wie wäre es stattdessen mit einer Geschichte? Kennst du die von dem Bauernmädchen, das seine Schafe nicht zusammenhalten konnte?«
»Ruhe, Strell«, warnte sie ihn und richtete den Blick wieder auf ihre Nadel.
»Nein, im Ernst. Es geht darin um ein Mädchen, das –«
»Ich kenne die Geschichte!«, rief sie.
»Nun, dann …« Er zögerte. »Erzähl du doch eine. Wie wäre es mit der Geschichte, die du mir gestern Abend erzählt hast?«
»Du meinst, die von dem Raku, der Segeln lernen wollte?«
Strell nickte begeistert. »Ja. Genau die.«
Sie starrte ihn an. »Die habe ich dir schon zweimal erzählt.«
»Ich hatte sie aber vorher noch nie gehört. Ich bin nicht sicher, ob ich schon alle Nuancen erfasst habe.«
Nuancen?, dachte sie ungläubig. »Das ist nur eine von Papas albernen Geschichten«, protestierte sie. »Sie hat überhaupt keine Nuancen.«
»Bitte«, sagte er und blickte so sehnsüchtig drein, dass Alissa seufzte und wünschte, sie hätte gar nicht erst vorgeschlagen, dass sie einander Geschichten erzählten, damit die Abende schneller vergingen. Insgeheim war sie jedoch erfreut, also machte sie es sich gemütlich, um sie ihm ein drittes Mal zu erzählen. Als sie nach einem Zweig griff, um das Feuer anzuschüren, wirbelte ein Summen in ihrem Hinterkopf auf, das sie erschrocken erstarren ließ. Das war Nutzlos.
»Zu Asche sollst du verbrennen, Nutzlos«, rief sie, als ihr schwarz vor Augen wurde. »Ich lasse mich nicht so herumzerren!« Doch sie wusste nicht, wie sie ihn daran hindern könnte, und wurde wider Willen in die Dunkelheit hineingezogen. Tief in ihrem Geist spürte sie bereits das Glimmen der überkreuzten Schleife. Sie hatte das nicht bewirkt. Alissa konnte nur zusehen, wie ein Großteil ihrer Pfade zum Leben erwachte, wie sich Spuren und Kanäle mit der kühlen, zischenden Energie füllten. Sie kämpfte dagegen an, doch die Anziehungskraft war zu stark, und die Pfade begannen zu verblassen, als die Ohnmacht einsetzte. Wie konnte er es wagen, ihr das schon wieder anzutun!
Nutzlos sollte nicht glauben, dass sie sich demütig seinem Willen fügte, deshalb richtete Alissa jeden verbliebenen Gedanken auf Strell und seine Frage in der Hoffnung, dass genau dies dafür nötig war. Wenn sie schon in Ohnmacht fallen musste, dann wollte sie dabei etwas in Erfahrung bringen, das sie wissen wollte, ganz gleich, wie belanglos es erscheinen mochte. Alissa lockerte ihren geistigen Griff und ließ sich leicht in die Erinnerung hineingleiten. Ihr letzter bewusster Gedanke galt Strell, der sich schrecklich darüber aufregen würde, dass sie nun doch nicht vor dem Morgengrauen aufbrechen konnten.
Auf seinem Aussichtspunkt hoch auf dem Wagen polierte Trook Hirdun sein Instrument und behielt dabei
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