Alissa 1 - Die erste Wahrheit
unter ihren Mantel, in der Hoffnung, dass er nichts bemerken würde.
»Pilze«, sagte er mit leuchtenden Augen und ließ eine Handvoll davon in Alissas umgedrehten Hut fallen. »Da sind noch mehr. Ich komme gleich wieder.«
»Danke, Strell«, sagte sie leise.
Er blickte zu ihr zurück, bevor er in den Regen trat. Das schwache Lächeln, das er ihr zuwarf, sagte deutlich, dass er wusste, was sie gemeint hatte – nicht die Pilze. Sie sah ihm nach, und er zog unter dem plötzlichen Ansturm von Wind und Regen den Kopf ein. Kleine Rinnsale tropften von der breiten Krempe ihres alten Hutes auf seine Schultern, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Strell verabscheute den Regen, und sie war diejenige, die deswegen einen Aufstand machte.
Ihre üblichen Rollen waren an diesem Nachmittag vertauscht. Strell hatte keine Rast einlegen wollen, doch da es nun einmal entschieden war, nutzte er die Zeit, so gut er konnte. Bis zum Abend häuften sich um sie herum Wurzeln, späte Beeren und andere Dinge aus dem Wald, von denen Strell ihr versicherte, sie seien essbar. Sie war im Vorgebirge aufgewachsen und staunte darüber, was Strell an Genießbarem finden konnte. Sie hätte das meiste davon gar nicht in Betracht gezogen. Der Nebel war schwer und nass und ließ die Nacht dunkler wirken, als sie hätte sein sollen. Dies schien wiederum den Regen zu ermuntern, der laut auf das gefallene Laub prasselte und es zu einer unterwürfigen braunen Masse zusammenfallen ließ. Der erdige Geruch der Blätter war in gewisser Weise tröstlich, noch nicht so säuerlich wie die bittere Fäulnis, mit der sie den Frühling begrüßen würden. Er vermengte sich angenehm mit dem leicht muffigen Geruch von trocknender Wolle und Leder. Die Nacht wäre unerträglich gewesen, wenn sie nicht diesen Felsüberhang gefunden hätten. Alissa musste lächeln, während sie fleißig die letzten Stickereien an ihrem Hut anbrachte. Ihre Schmerzen waren in der Wärme des Feuers verschwunden, und ihre Laune hatte sich erheblich gebessert, da sie nun wusste, dass ihr Unwohlsein vom Wetter gekommen und nicht Anzeichen einer Krankheit gewesen war.
Strell beschäftigte sich mit der Karte ihres Vaters, die er vorsichtig auf seiner Decke entrollt hatte, damit sie nicht schmutzig wurde. Alissa beobachtete ihn und unterdrückte einen Anflug von Neid. »Strell?«, fragte sie gedehnt und zog ihre drei letzten Stiche fest. »Wie wäre es mit einem Tausch?«
Er blickte auf, und seine Augen blitzten belustigt. »Du besitzt nichts, was diese Karte wert wäre, Alissa.«
Sie schürzte die Lippen und stach die Nadel durch das Leder. Er klang so sehr wie ein Tiefländer auf dem Markt, dass sie ihm diese Worte nur schwer verzeihen konnte. »Wie wäre es mit meiner Schüssel? Du hast doch gesagt, sie sei gut.«
Seine Brauen hoben sich mit einer empörenden Mischung aus Belustigung und Selbstsicherheit. »Nicht so gut.«
»Warum nicht?«, erwiderte sie beleidigt. »Ich habe meine Arbeiten schon oft gegen gutes Tuch eingetauscht.«
Strell beugte sich über das Feuer und flüsterte: »Ich habe ihr dafür Seide gegeben.«
Alissa war bestürzt. »Wie viel Seide?«, fragte sie und war nicht sicher, ob sie nun wirklich bestürzt sein sollte oder eher stolz, dass die Arbeit ihres Papas ein Stück Seide wert war.
»Genug für einen Rock –«
Alissa schnappte nach Luft.
»Und eine langärmlige Bluse«, fügte er grinsend hinzu.
Erstaunt legte Alissa ihre Arbeit nieder und rieb sich die Augen. Die Karte ihres Papas war so viel Seide wert? Sie würde nie genug besitzen, um die Karte zurückzubekommen.
»Das war ein guter Tausch«, erklärte Strell, offensichtlich zufrieden. »Ich glaube, ich habe dabei ein Geschäft gemacht.«
»Aber du kannst sie nicht einmal lesen«, protestierte sie.
»Ich weiß genug, um sie zu benutzen«, erklärte er leichthin und wandte sich wieder der Karte zu.
Alissa schürzte erneut die Lippen. »Dann lass mich wenigstens etwas für ihr Haarband eintauschen.«
Er blickte nicht auf. »Nein.«
»Das brauchst du doch gar nicht«, rief sie. Warum stellte er sich nur so an?
»Das weiß man nie«, erklärte er leise, und sein Blick schweifte gedankenverloren in die Ferne. »Sie hat es mir als Pfand ihrer mütterlichen Zuneigung geschenkt. Ich binde damit die Karte zusammen. Ich behalte es. Außerdem brauchst du es auch nicht. Dein Haar ist kürzer als das der niedersten Bettler im Tiefland.«
Alissa erstarrte. Ihr Haar war nach Art des Hochlands geschnitten,
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