Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
»Aber Rakus gibt es schon seit Menschengedenken. Ich hätte erwartet, dass dort unzählige Namen stehen müssten.«
Nutzlos lächelte schwach. »Das sind die Namen von Meistern, nicht von Rakus.«
»Ist das nicht ein und dasselbe?«
»Ja und nein.«
Sie wartete geduldig.
»Die Namen auf der Zisterne umfassen nur die letzten sieben Generationen der Rakus«, erklärte er. »Davor konnten wir weder lesen noch schreiben.«
»Ihr wart alle wild?«, fragte sie mit einem erschrockenen Japsen.
Nutzlos kicherte. »Bei den Wölfen meines Herrn, nein! Wir sind uns schon ebenso lange unser selbst bewusst wie die Menschheit, vielleicht sogar länger. Doch erst in den letzten Generationen erlangten wir das nötige Wissen, um eine Gestalt anzunehmen, die einen Stift halten und mit Papier umgehen kann. Unsere schwächeren Brüder und Schwestern, die Menschen, haben uns ein großes Geschenk gemacht, und wir bemühen uns seither, es ihnen zu vergelten, indem wir jene, die ein teilweise funktionstüchtiges neuronales Netzwerk besitzen, in dessen Gebrauch unterweisen. Die Namen, die du gesehen hast, gehören Meistern, nicht Rakus. Sie werden erst an dem Tag eingemeißelt, da die erste Verwandlung in eine menschliche Gestalt bewältigt wurde. Bis dahin sind ihre Namen nur ein Versprechen.«
»Trotzdem, es waren so wenige …«, bedrängte sie ihn.
»Bewusst empfindungsfähig oder nicht, wir sind immer noch Fleischfresser, und große obendrein. Das Land hier kann nur eine gewisse Anzahl von uns ernähren.«
Sie dachte darüber nach, und ihr fiel die kleine Schafherde ihrer Mutter ein und die ständige Gefahr der Inzucht, die damit einherging. »Ist das nicht …«, stammelte sie und war entsetzlich verlegen, doch sie musste es wissen. »Bringt das nicht Probleme mit sich, ich meine, in Bezug auf darauf, mit wem Ihr Euch vereinigt?«
Nutzlos übersah höflich ihre flammenden Wangen. »Ja«, antwortete er seufzend. »Allerdings. Wir führen genaue Aufzeichnungen über die Abstammung, und gelegentlich taucht eine neue Blutlinie auf, was üblicherweise zu einer kleinen Bevölkerungsexplosion führt.«
»Neue Blutlinie?«
»Ja.« Erst jetzt schien ihm das Thema unangenehm zu werden.
»Die wilden Bestien?«, fragte sie und dachte an Connen-Neute.
»Äh – nein«, brummte er. »Vereinigungen zwischen Meistern werden oft im Voraus arrangiert, lange bevor die Geschlechtsreife erreicht ist«, sagte er und wechselte damit offenkundig das Thema.
»Vernunftehen sind barbarisch«, unterbrach ihn Alissa. Strell hatte ganz ähnliche Ansichten wie Nutzlos, und sie fragte sich, ob die Tiefland-Tradition vielleicht von hier stammte.
Nutzlos musterte sie misstrauisch. »Wie dem auch sei, bei uns ist das eine Notwendigkeit. Noch hat sich auch niemand darüber beschwert. Die beiden, die füreinander gedacht sind, besuchen gemeinsam die Schule. Üblicherweise sind sie mit der Situation völlig einverstanden. Falls nicht, werden Änderungen vorgenommen. Unsere Population ist … äh … war früher nicht so klein, dass man da völlig unbeweglich gewesen wäre.«
Alissa nickte, überrascht, dass er ihr eine so umfassende Erklärung gegeben hatte. Es kam nicht oft vor, dass er ihr irgendetwas über die Verhältnisse seiner Herkunft erzählte. Sie hatte jedoch noch eine letzte Frage und rutschte unruhig herum.
Nutzlos seufzte. »Ja, Alissa?«
»Die eingekreisten Namen?«, fragte sie mit gesenktem Blick.
»Sie sind verwildert. Ja.«
»Das tut mir leid«, flüsterte sie und wünschte, sie hätte nicht gefragt.
Wieder senkte sich Schweigen herab. Das Wasser begann zu dampfen, und Nutzlos, der offenbar bereit war, die Sache zu vergessen, griff nach der Kanne und fragte im Plauderton: »Was macht Strells Unterweisung?«
»Sie macht sich gut, wie Ihr wohl schon erraten habt.« Alissa war erleichtert, dass er nicht so bedrückt war wie sonst, wenn er an seine wilden Verwandten erinnert wurde. Sie zog die Beine unter sich und rückte ihren Mantel so zurecht, dass noch mehr von ihr unter der wärmenden Hülle verschwand. »Bailic hat eine Unzahl kleiner Banne rasch nacheinander durchgenommen, genau wie Ihr vorhergesagt habt.«
Nutzlos warf ihr einen merkwürdigen Seitenblick zu. »Er hält sich im Groben an seine eigene Ausbildung als Schüler, doch er schreitet gefährlich schnell voran, weil er unbedingt herausfinden will, was mein Buch öffnet. Er glaubt fälschlicherweise, das Buch würde sich öffnen, wenn Strell genug wüsste, und auch ihm
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