Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Das war er. Es waren schon Wochen vergangen, seit sie zuletzt aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er ihr im Schlaf verfallen war. Erfreut zog sich Alissa die Decke über die Schultern und stand auf. »Sieht so aus, als hätte ich eine weitere Unterrichtsstunde«, flüsterte sie Kralle zu und ging auf Zehenspitzen zu ihren geschlossenen Fensterläden.
Die Kälte zwickte sie in die Nase und schlüpfte unter ihre Decke, sobald sie sich in die Nacht hinauslehnte, oder vielleicht eher in den frühen Morgen. Das war schwer zu sagen. Da der zunehmende Halbmond gerade aufging, schätzte sie, es müsse gegen Morgen sein. Die wenigen Sterne schwanden zusehends, während die Schneewolken, die gestern schon den ganzen Tag drohend über das Land gezogen waren, nun auch die Feste erreichten.
Sie atmete tief ein und aus und sah zu, wie ihr Atem zu einem Dampfwölkchen wurde, sobald er auf die kalte Luft traf. Obgleich der Frühling offiziell erst in zwei Wochen begann, lag schon ein Hauch davon in der feuchten Luft und erfüllte sie mit freudiger Erwartung. Der Frühling war schon immer ihre liebste Jahreszeit gewesen.
»Wenn du damit fertig bist, die Nacht zu bewundern, komm bitte herunter in den Garten« , meldete Nutzlos sich trocken in ihren Gedanken.
»Nur einen Augenblick« , entgegnete sie wortlos. Früher unzuverlässig und für sie nicht bewusst steuerbar, verbesserte sich ihre Fähigkeit zur stimmlosen Kommunikation auf Entfernung nun beständig. Sie konnte Nutzlos jetzt hören und von ihm gehört werden, wann immer sie wollte, trotz des Schweigebanns der Feste. Als sie Nutzlos während ihrer intensiven Unterrichtsstunde über nonverbale Kommunikation nach diesem seltsamen Umstand gefragt hatte, hatte er hastig das Thema gewechselt. Er hatte nur angemerkt, dass Bailic nicht in der Lage sein würde, sie zu hören, selbst dann, wenn sie den Grund und Boden der Feste verließ – sie solle sich keine Gedanken darüber machen. Solche Abfuhren erteilte er ihr in letzter Zeit häufig, und sie hatte sie gründlich satt.
Neuerdings fanden ihre Treffen sporadisch und zu unvorhersehbaren Zeiten statt, da Nutzlos dazu übergegangen war, seinen Unterricht dann abzuhalten, wenn ihm danach zumute war. Alissa war es gleich, wann sie sich trafen, solange sie nur weiterlernte. Dem Mangel an Eicheln in der Feste nach zu schließen, hatte Lodesh seine Besuche vollkommen eingestellt, und sie hoffte nur, dass sie den Stadtvogt nicht ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Sie zog sich so schnell wie möglich an, um der Kälte gewachsen zu sein. Nutzlos würde ihr erlauben, das Feuer zu entzünden, wenn sie sich beeilte. »Kommst du mit?«, fragte sie Kralle. Der Vogel plusterte das Gefieder, sank auf seinen Sitz herab und schloss die leuchtenden Augen. »Letzte Chance«, warnte Alissa, als sie ihren Talisman in die Tasche steckte und die Füße in die Stiefel zwängte. Anscheinend war es Kralle zu früh zum Fangenspielen, also ging Alissa allein. Wenn Kralle wollte, konnte sie jederzeit durch das Loch hinausschlüpfen, das Alissa in ihre Fensterläden gesägt hatte.
Alissa huschte den Flur entlang, strich im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger über Strells Tür und wünschte ihm friedvolle Träume. Er sah in letzter Zeit so müde aus und behauptete, er schliefe schlecht. Die Feste war still; nur die leisen Geräusche ihrer Stiefel drangen durch die Dunkelheit, in der sie zuversichtlich ihren Weg fand. Alissa erhaschte einen Blick auf sich in dem Spiegel am Treppenabsatz und hielt inne; sie musste dicht herantreten, um etwas darin zu sehen.
»Mutter würde mich nicht wiedererkennen«, sagte Alissa und fühlte einen Anflug von Heimweh. In den feinen Gewändern, die sie nun trug, sah sie ganz anders aus als das einfache Mädchen aus dem Hochland, das sie eigentlich war. So gut wie alles, was sie trug, war neu, selbst gefertigt aus Stoffen von so guter Qualität, dass sie ihr manchmal unwirklich erschienen. In den Lagerräumen war keinerlei zweitklassiges Tuch zu finden. Deshalb zeigte ihre Kleidung keines der Kennzeichen, die für das sparsame Hochland so typisch waren. Ihre Sachen waren verschwenderisch kostbar, nur ihre hässlichen Stiefel, ihr Mantel und Strells abgetragener Hut waren geblieben, und mit säuerlichem Blick auf den Hut beschloss sie, in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen – irgendwann.
»Schülerin …« , rief Nutzlos gereizt.
»Ich komme schon!« Alissa rannte die Treppe hinunter. Sie schlüpfte in die
Weitere Kostenlose Bücher