Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
dunkle Küche und füllte eine Teekanne mit Wasser. Zwei Becher kamen hinzu, und schon schlitterte sie hinaus in die Dunkelheit, dass ihr der Mantel um die Knöchel flatterte. Nutzlos hätte die Becher selbst zur Verfügung stellen können, doch die Küche war voller Becher, alle erschreckend gleich. Sie brauchten nicht noch mehr davon.
Draußen war es ein wenig heller als hinter den Mauern und bitterkalt. Alissa eilte den gewundenen, vereisten Pfad entlang, bis sie vor Nutzlos stand. Das Feuer war noch nicht angezündet. Sie hatte es rechtzeitig geschafft.
»Guten Morgen, Schülerin«, sagte Nutzlos ernst, und seine tiefe Stimme rollte durch die Dunkelheit. »Wärst du so freundlich, das Feuer zu entzünden?«
»Guten Morgen, Nutzlos. Ja, gerne, ich danke Euch.« Grinsend wie eine Närrin schuf Alissa ein Feld um das Feuerholz herum. Einen Augenblick später floss Energie kühl durch ihren Geist und erzeugte einen Bann, der die Moleküle des Holzes in so schnelle Bewegung versetzte, dass es Feuer fing. Nun, zumindest behauptete Nutzlos das; sie wusste nur, dass es funktionierte. Bei ihrem ersten Versuch war das ganze Holz in einem erschreckenden Augenblick verzehrt worden. Nutzlos hatte sich geräuspert, mehr Holz auf die Asche geschichtet und sie gebeten, es noch einmal zu versuchen. Doch ihre Kontrolle darüber wurde immer feiner, und heute Nacht erwachte ihr Feuer mit einem befriedigenden »Wusch« zum Leben. Erfreut wartete Alissa, bis die sengend weiß blauen Flammen ihre gewöhnliche orangerote Farbe angenommen hatten, und stellte dann das Teewasser auf.
»Gut, gut.« Nutzlos trat dichter an die Flammen heran. »Sehr effiziente Nutzung deiner Ressourcen. Gerade genug, nicht zu viel. Hast du geübt?«
Sie nickte.
Nutzlos setzte sich und schloss die Augen. »Das sieht man.«
Alissa glühte innerlich von dem Lob, als sie sich ebenfalls hinsetzte. Sie ließ die Augen jedoch offen, begierig darauf, worum es in ihrer heutigen Unterrichtsstunde gehen mochte. Jede Lektion brachte sie dem näher, was sie sich unter den Fähigkeiten einer Bewahrerin vorstellte. Es kam ihr so vor, als würde alles immer leichter, je mehr sie schon wusste. Doch es war nie genug. Sie hungerte stets nach mehr von Nutzlos’ Unterricht.
Das Wasser erwärmte sich langsam, und Alissa wartete. Sie wusste, dass es keinerlei Unterweisung geben würde, bis Nutzlos einen Becher Tee in den langen Fingern hielt. Sie beherrschte nun die Kunst, Wasser so schnell zum Kochen zu bringen wie Lodesh, doch sie tat es nicht. Geduld, würde Nutzlos sagen. Nutze die Zeit, die dir zur Verfügung steht. Die augenblickliche Erfü l lung aller Wünsche lehrt dich nichts – damit betrügst du dich nur selbst. Also saß sie da und versuchte, nicht die Kanne anzustarren. Stattdessen blickte Alissa zu dem Stern auf, der passenderweise nach dem Navigator benannt war – dem Zentrum des Nachthimmels. Er verschwand gerade hinter den dicken Wolken, und sie hielt den Atem an, um zu sehen, ob er sich noch einmal zeigen würde, bevor sie wieder Luft holen musste.
Zu ihrer großen Erleichterung hatte Nutzlos ihren »Mangel an Urteilsvermögen«, sich von Lodesh die Theorie der Erschaffungsbanne erklären zu lassen, nicht wieder zur Sprache gebracht. Der Versuch ihres Lehrers, sie zu bestrafen, war kläglich gescheitert, und Alissa vermutete, dass er überhaupt nicht mehr über den Zwischenfall sprechen wollte. Sie musste sich eingestehen, dass er keine einzige ihrer Fragen zu dem, was sie in den tiefsten Kellern der Feste gesehen hatte, wirklich beantwortet hatte. Er hatte lediglich einen überwältigenden Schwall nichtssagender, geschwollener Worte und unverständlicher Fachbegriffe von sich gegeben, bei dem Alissa nur sprachlos hatte blinzeln können. Sie hatte bisher gezögert, ihn noch einmal danach zu fragen, da sie sich nicht wieder solch jämmerliches Gewäsch anhören wollte, doch sie hatte eine brennende Frage, die er ihr hoffentlich beantworten würde.
»Nutzlos?« Alissas Atemwolke verbarg den Stern, der eben wieder sichtbar geworden war.
»Ja, Alissa?«
»Unten in der Höhle« – sie senkte den Blick – »war dieser Brunnen …«
»Die Zisterne, ja«, half er argwöhnisch nach und öffnete die Augen.
Alissa richtete sich auf, ein wenig ermutigt. »Es waren Namen darauf eingemeißelt …«
»Ja. Die Namen von Meistern.« Nutzlos’ goldbraune Augen wirkten weich und in die Vergangenheit entrückt.
»Es waren nicht besonders viele«, sagte sie.
Weitere Kostenlose Bücher