Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
selbst zu ärgern. »Latente Bewahrer werden von Natur aus zu jeder Ansammlung von Meistern hingezogen, sobald sie erwachsen werden. In der Vergangenheit wurden einige wenige Glückliche in Ese’ Nawoer geboren und konnten ihre Ausbildung schon als Kinder beginnen. Du« – er zeigte vorwurfsvoll mit einem langen Finger auf sie – »wurdest nicht von der Feste herbeigerufen. Allein mein Buch hat dich hierhergezogen.«
»Mein Buch«, brummte sie.
Er funkelte sie an und sagte kein Wort mehr, bis sie den Blick senkte. »Wie gesagt«, fuhr er fort, » mein Buch hat dich hierhergerufen. Zahllose Bewahrer haben es gelesen, eine ganze Reihe von ihnen hatte es in ihrem Besitz, während ich anderswo beschäftigt war, und herzlich wenige haben einen Bruchteil seines Inhalts verstanden, unter ihnen auch dein Vater.« Nutzlos zögerte. »Vielleicht hat er mehr verstanden, als mir bewusst war.« Er schüttelte den Kopf und fixierte sie mit strengem Blick. »Ich gestehe nur so viel zu, dass du das Potenzial besitzt, das darin enthaltene Wissen nutzen zu können. Das« – er schloss die Augen – »ist alles, was ich dir darüber sagen werde, also stell mir keine weiteren Fragen.« Doch er war noch nicht ganz fertig. Er lehnte sich zurück und fügte hinzu: »Es ist dieses Potenzial, das mich dazu bringt, dir mehr von meinen Geheimnissen zu enthüllen als üblich. Das, und die Tatsache, dass ich dich mag. Du bringst mich zum Lachen.« Der letzte Satz war kaum mehr hörbar, und Alissa war nicht sicher, wie sie ihn auffassen sollte.
Nutzlos räusperte sich und schüttelte den Schnee von seinem Mantel. »Also, soweit ich weiß, hat Bailic Strell inzwischen gezeigt, wie man Feuer macht?«
Alissa nickte geistesabwesend, tief in Gedanken versunken.
»Gut. Wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein, darfst du ein Feuer mit einem undurchlässigen Feld löschen.«
»Wirklich?«, platzte sie heraus, und alle Grübelei über ihre ungewöhnliche Situation war vergessen.
»Ja, wirklich.« Er lächelte. »Achte nur darauf, dass du Bailic nicht aus Versehen ein solches Feld zeigst; er hätte keinerlei Hemmungen, es zu missbrauchen.«
Alissa erinnerte sich an Bailics Verzückung, als er Strells Finger weggezaubert hatte, und schwor sich, dass sie sehr vorsichtig sein würde.
»Das reicht jetzt für eine Weile«, sagte Nutzlos und blickte forschend in den von Schnee erfüllten Himmel. »Es wird dich sicher freuen, zu hören, dass es keinen weiteren Unterricht geben wird bis der Schnee geschmolzen ist.«
»Wie bitte?« Sie riss den Kopf hoch und starrte ihn fassungslos an. »Kein Unterricht mehr? Das könnt Ihr nicht tun!«
»Ich kann. Ich habe es soeben getan. Es ist kalt hier draußen. Das wird allmählich lächerlich.«
»Das macht mir nichts aus!«, jammerte Alissa. »Kommt doch herein. Bailic wird es nicht merken.« Das war eine alte Auseinandersetzung zwischen ihnen, die sie bisher noch nie gewonnen hatte.
»Er würde es merken«, knurrte Nutzlos beinahe, doch er war zornig auf Bailic, nicht auf sie.
Sie schürzte schmollend die Lippen. »Wie denn?«
»Er würde mich riechen.« Nutzlos berührte seine Nase, und Alissa sank in sich zusammen. »Also«, fuhr er lächelnd fort, »bleiben dir neue Lektionen eine Weile erspart. Gib dich damit zufrieden, alles zu üben, was du kannst. Vergiss nur nicht, immer auf Bailic zu achten, wenn du übst.«
Alissa hatte heute nicht viel für ihre kurze Nacht bekommen und konnte ein schweres Seufzen nicht unterdrücken. Nutzlos hatte sich schon halb erhoben, überlegte es sich dann aber anders und setzte sich wieder. »Bevor ich gehe«, begann er gedehnt, »hat Lodesh übertrieben, als er mir berichtete, dass deine persönlichen Gefühle eine ganz bestimmte Richtung genommen haben?«
Sie schwieg und spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Sie hatte gehofft, dass er die Nacht längst vergessen hatte, in der Lodesh zu ihnen ans Feuer getreten war; der Stadtvogt hatte sie geneckt und sich halb im Scherz beklagt, dass er wohl nicht für sie bestimmt sei und sie ihr Herz schon an einen anderen verloren habe.
»Aha. Offensichtlich nicht.« Nutzlos stocherte in der Glut herum und ließ unachtsam seinen Stock anbrennen. »Halte dich zurück, Alissa«, warnte er. »Gehe keine Bindung zu Strell ein, die nicht so leicht wieder zu trennen wäre.«
»Nutzlos!« Mehr brachte sie nicht heraus. Das war so peinlich!
»Es ist nur zu eurem Besten. Du bist unwiderruflich an die Feste gebunden, auf eine Art und
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