Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
eingeschränktes Sehvermögen, dennoch richtete er den Blick gen Himmel auf der Suche nach der goldenen Gefahr, die er hinter dieser Lichtkugel vermutete. Doch am Himmel fand sich nicht einmal eine Wolke, und schon gar keine Bestie; erleichtert sackte er zusammen. Es ist nicht Talo-Toecan, dachte er. Dann bleibt nur …
»Das Mädchen?« Er verzog das Gesicht und wandte sich zu der kleinen Gestalt um, die in der schlammigen Erde hockte. Sie konnte es nicht sein! Sie hörte ja nicht einmal zu.
»Heller, bitte«, flüsterte er, und die Kugel schimmerte so grell, dass sie es beinahe mit der Sonne aufnehmen konnte. Die im Matsch kniende Gestalt ließ keinerlei Anzeichen der enormen Konzentration erkennen, die eine solche Aufgabe erforderte, aber irgendjemand hielt diesen Bann aufrecht. Er sah zu, wie sie sich mit einem freudigen Laut einem Büschel Minze zuwandte.
Sie begann, ganze Massen davon auszureißen, als wolle sie die Welt von einer Ungerechtigkeit befreien.
Bailic kümmerte sich nun nicht mehr darum, ob die Sonne ihn verbrannte, und schlich näher heran. Nervös strich er mit den Händen über seine Meisterweste, beruhigte sich methodisch und leerte seinen Geist, um seine Pfade nach den verräterischen Anzeichen einer Resonanz abzusuchen. Er bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun, als er nicht das leiseste Schimmern in seinen Gedanken fand. Keine Spur.
Bailic erstarrte. Wer auch immer diesen Bann schuf, benutzte ein Muster, das er selbst nicht besaß. In seinen frühesten und ironischerweise blutigsten Unterredungen mit jenen Kollegen, die nicht bereit waren, ihre Geheimnisse mit ihm zu teilen, hatte er festgestellt, dass jeder Bewahrer sich darin unterschied, wie seine Pfade untereinander verbunden waren. Diese Unterschiede wurden offenbar nur bei den komplexesten und daher am wenigsten gebrauchten Bannen sichtbar. Deshalb hatte keiner von ihnen das bemerkt, und ihre Meister hatten es nie für nötig gehalten, es ihnen zu sagen. Eine Resonanz trat nur auf, wenn eine perfekte Übereinstimmung für den fraglichen Bann gefunden wurde. Wer auch immer diesen Bann wirkte, hatte ein präziseres, vollständigeres Netzwerk als Bailic. Damit war er potenziell stärker, jedoch nicht unbedingt geschickter oder klüger.
»Aber das Mädchen?«, flüsterte er. Es war undenkbar, dass er sich derart verschätzt haben sollte. Bailic verhielt sich still und beobachtete, wie sie weiter Unkraut zupfte, ohne etwas von den gefährlichen Gedanken zu ahnen, die ihm durch den Kopf schossen.
»Der Pfeifer trägt Bewahrer-Kleidung«, versicherte er sich selbst, weil er die Wahrheit noch immer nicht einsehen wollte. Bailic starrte das Mädchen an. »Aber sie hat seine Kleidung geschneidert, vor meinen Augen, und mir ist das nie aufgefallen.« Sie, erkannte er nun, war es, die die Fensterbanne zerstört und einen Riss in die Mauer der Feste gesprengt hatte. Dabei hatte sie sich verbrannt und war in diesen todesnahen Zustand gefallen, aus dem er sie zurückgeholt hatte. Sie hatte das Buch aus dem Brunnen geholt, und Bailic hatte angenommen, ihr Gefährte habe ihr gesagt, wo es versteckt sei. Sie hatte Tee mit Talo-Toecan getrunken und ihn, Bailic, in dem Glauben gelassen, sie tue nichts weiter, als von den Fortschritten des Pfeifers zu berichten. Sie, dachte Bailic und knurrte innerlich, erschafft einen Bann, der ein so helles Licht he r vorbringt, dass es stärkere Schatten wirft als die So n ne!
Sie ist es, erkannte er, und die schwere Last seiner eigenen Dummheit brach über ihm zusammen. Dann hob die glückliche, zufriedene Gestalt des jungen Mädchens das Antlitz zum Himmel, rückte ihren neuen Bewahrer-Hut zurecht und lächelte in die Sonne. Zum ersten Mal sah Bailic seinen weiblichen Gast im vollen Sonnenlicht, und er erkannte mit völliger Sicherheit die Farbe ihrer Augen.
»Sie – sind – nicht – blau«, stieß er schäumend hervor. »Sie sind grau, wie die ihres Vaters!«
Kochender Zorn brandete in ihm auf und erschreckte ihn mit einer zerstörerischen Woge schwarzer Wut, die alles andere erstickte. Sein Gesicht verzerrte sich, und er ging steif vorwärts, bis er vor dem Mädchen stand, das ihn noch nicht bemerkt hatte. Mit einem heftigen Schauer zügelte er seine Emotionen. Ein Teil von ihm staunte darüber, welche Kraft dazu nötig war, seine Gefühle zurückzudrängen, und er wunderte sich, wo er diese Kraft gefunden haben mochte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er seinen Gefühlen bald freien Lauf
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