Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
ließ nun den Kopf auf die Hände sinken.
Hastig baute Alissa die richtigen Pfade auf, und ihr Feld erschien, während sich die kalten Kanäle füllten. Sofort überkam sie das unheimliche Gefühl, sich an zwei Orten zugleich zu befinden, während das komplizierte Muster sowohl in ihren Gedanken als auch in dem Feld entstand. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bannen musste dieser hier unablässig aufrechterhalten werden; er blieb fest und sicher mit ihrem Bewusstsein verbunden, bis sie ihn löste. Das Schwindelgefühl verging, aber nicht, weil der Bann ihre Gedanken verließ und in das Feld übersprang, sondern weil es von den Eindrücken ihrer anderen, öfter gebrauchten Sinne überschattet wurde. Ein weiches Glühen hüllte sie ein, als die Sonne das Dach der Feste erreichte.
»Gut«, gestand Bailic widerwillig zu, als sei ein wenig Vertrauen in Strells mangelnde Fähigkeiten wiederhergestellt worden. Der Mann starrte mit gerunzelter Stirn zur Feste hinauf. Alissa konnte sich vorstellen, dass er ähnlich dachte wie sie. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonnenstrahlen den Garten erreichten, und dann wäre der Unterricht vorbei.
»Löse den Bann und beginne von vorn«, sagte Bailic, den Blick auf die herabkriechenden Sonnenstrahlen gerichtet. »Aufbau und Auflösung sind wichtiger. Die Aufrechterhaltung ist einfach.«
Alissa leckte sich die klebrigen Reste ihres süßen Brötchens von den Fingern und tat, was er verlangt hatte. Das Leuchten ihrer Kugel mischte sich mit dem Licht der aufgehenden Sonne und erhellte nun mehr von der Umgebung der Feuerstelle. Krokusse! , rief sie im Stillen aus, als sie ein Stückchen Gelb entdeckte, das unter einem kahlen Busch hervorlugte. Sie warf Bailic einen Blick zu – der noch immer die herannahende Sonne beobachtete – und beschloss, dass sie es sich näher ansehen konnte. Es war auf keinen Fall weiter als eine Raku-Länge entfernt. Das Letzte, was sie wollte, war, den Abstand zu überschreiten, so dass die Resonanz verblasste.
Ein freudiges Lächeln stahl sich auf Alissas Gesicht, als sie die kleinen Blumen mit einer zarten Berührung begrüßte. Sie waren kalt und seidig. Sie beugte sich tief hinab und bemerkte das steife Blatt einer Schwertlilie, das tapfer aus zusammengepferchten, halb freigelegten Wurzeln emporragte.
»Mach es heller«, sagte Bailic mit schmeichelnder Stimme, und Alissa gehorchte, ohne sich auch nur umzudrehen. Sie ging weiter zu einem Gestrüpp, das einmal eine Blumenrabatte gewesen sein musste, kniete sich hin und spürte, wie ihre Knie sofort feucht und kalt wurden. Es war ihr gleich. Die Erde erwachte wieder zum Leben, und das erfüllte sie mit einem tiefen Gefühl von Sinnhaftigkeit und Frieden. Ihre Hände griffen bereitwillig zu und gruben das alles erstickende Unkraut zwischen den weichen, frischen Trieben hervor, die noch unter den tot wirkenden Klumpen der Pracht vom vergangenen Jahr versteckt lagen.
»Heller«, hörte sie eine ferne Stimme und gehorchte.
Alissa wusste aus trauriger Erfahrung, dass ihre feinen neuen Kleider ruiniert sein würden, denn die Erde hinterließ dunkle Flecken. Aber sie konnte nicht anders. Wenn sie Unordnung sah, vergaß sie alle Achtsamkeit. Diese Kleider waren nun nicht mehr ihre besten, und es war ihr völlig gleich.
»Phlox?«, flüsterte Alissa und musterte eingehend ein Blatt, das ihr bekannt vorkam, bevor sie ein Gewirr von Unkraut darum herum entfernte. Phlox konnte sehr empfindlich sein, was zudringliche Nachbarn anging.
»Thymian.« Sie nickte selbstsicher den winzigen Blättern zu, die bereits aus den verholzten Zweigen sprossen. Sacht strich sie mit dem Finger über die zähe Pflanze. Diese hier würde ihre Hilfe nicht brauchen, und sie lächelte ihr zu und wünschte ihr alles Gute.
»Heller, bitte«, sagte Bailic, den sie schon fast vergessen hatte, und heller wurde ihr Licht.
»Minze!« Sie strahlte und kniete sich dorthin, wo die Minze etwas überwucherte, das sie noch nicht bestimmen konnte. Voll rachsüchtiger Begeisterung beugte Alissa sich vor und riss ganze Hände voll von der aggressiven Pflanze aus, um ihren sanfteren Beetgefährten Luft zu verschaffen. Der Duft nach frischen Kräutern stieg auf, und sie hätte vor Glück platzen können. Endlich war der Frühling da, und sie gab sich ganz dem Schmutz und der Erde hin, vollkommen zufrieden damit, dieses kleine Fleckchen am Rand der Feuerstelle in Ordnung zu bringen, während Bailic schweigend zusah.
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