Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Ihr?«
Lodesh verbarg seine Gefühle mit hart erarbeiteter Übung. »Talo-Toecan, wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Der Meister warf einen Blick auf Alissa und runzelte die Stirn. »Ein wenig. So wie ich sie kenne, wird es nicht mehr lange dauern.«
Lächelnd trat Lodesh auf Strell zu. »Dann erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich bin Lodesh Stryska.« Er begrüßte Strell mit einer eleganten, höfischen Verbeugung. »Bewahrer der Feste und Stadtvogt von Ese’ Nawoer.« Er trat einen halben Schritt zurück und betrachtete den verblüfften Pfeifer mit belustigtem Blick.
»Ihr seid Alissas Lodesh«, hauchte Strell, und sein Blick schoss von Lodeshs Ring zu dem Stadtsiegel, das er um den Hals trug, und schließlich zu der silbernen Blüte, mit der sein Hemd bestickt war.
»Ja, ganz gewiss Alissas.«
Strell errötete, als hätte er seine guten Manieren vergessen. Er räusperte sich und neigte leicht den Kopf. »Ich bin Strell Hirdun, der Letzte dieses Namens, Bewahrer von gar nichts, Vogt von noch weniger.« Mit einer Grimasse schlug er in Lodeshs ausgestreckte Hand ein.
»Hirdun!« Talo-Toecan erhob sich. »Das ist die unbeständige Linie, die Keribdis schon seit Jahren auszu– «
»Hirdun, Hirdun«, unterbrach ihn Lodesh und blickte gen Himmel. »Diesen Namen habe ich schon einmal gehört. Ah ja!«, rief er aus, und seine Miene hellte sich auf. »Meine jüngste Schwester, das halsstarrige Ding, ist mit einem Mann von der Küste durchgebrannt, der diesen Namen trug. Irgendein Handwerker, der in die Fremde zog, um sein Glück zu machen.«
Talo-Toecan merkte offenbar nicht, dass Lodesh nur versuchte, den Pfeifer abzulenken. »Lodesh«, sagte der Meister. »Ihr beliebt zu scherzen. Es gibt keinen Hirdun unter Euren Vorfahren.«
»Ich bedaure«, sagte Strell entschuldigend. »Das muss ein anderer Hirdun gewesen sein. Ich stamme aus dem Tiefland, und meine Familie ist seit sieben Jahren tot.«
»Nein.« Lodesh rieb sich gedankenverloren die Stirn. »Das war vor, hm, dreihundertachtundachtzig Jahren – glaube ich.«
Strell blinzelte.
»Stadtvogt«, warnte Talo-Toecan. »Hat er noch nicht genug durchgemacht?«
Grinsend klopfte Lodesh Strell auf die Schulter. »Setzt Euch. Ich werde es Euch erklären.« Er nahm Strell beim Ellbogen und führte ihn zur Bank. Der Pfeifer zögerte und wollte Alissa offenbar nicht verlassen. »Wir haben noch Zeit«, versicherte ihm Lodesh. »Und wir setzen uns so, dass Ihr sie sehen könnt.«
Strell war offensichtlich nicht überzeugt, setzte sich aber auf die vorderste Kante der Bank. Talo-Toecan ließ sich ebenfalls wieder nieder und stocherte mit einem kurzen Ast im Feuer herum, so dass seine Finger beinahe zwischen den Kohlen verschwanden. Lodesh beäugte die beiden Becher mit kaltem Tee, nuschelte etwas über Fingerhüte und schuf seinen eigenen Becher. »Möchtet Ihr Tee?«, fragte er leichthin.
Talo-Toecan seufzte entnervt, und Strell sprang auf. »Tee?«, schrie der Tiefländer aufgebracht. »Ob ich Tee möchte? Ich will wissen, was hier vor sich geht!«
»Pfeifer«, grollte Talo-Toecan, »setz dich.«
»Nein! Ich habe schon gesessen. Ich habe zugehört. Ich habe zugesehen, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, bis …« Mit einem gequälten Aufschrei brach Strell auf der Bank zusammen. »Das ist alles meine Schuld«, flüsterte er. »Ich bin eingeschlafen.«
»Du bist eingeschlafen!« Talo-Toecan wich von der hellen Glut zurück, und seine Augen glitzerten gefährlich.
»Mitten in Bailics Unterricht, und jetzt liegt sie im Sterben«, beendete Strell seine Klage, und sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt und leer.
Lodeshs Blick glitt zwischen dem erzürnten Talo-Toecan und dem Pfeifer hin und her. »Niemand hat behauptet, dass sie im Sterben liegt«, warf er ein.
»Tut sie das nicht?«
»Augenblick.« Lodesh warf dem Raku, der kaum hörbare Drohungen vor sich hin murmelte, einen warnenden Blick zu. »Lasst mich Euch alles erklären. Talo-Toecan gebraucht dazu so lange Wörter, dass mir die Ohren wehtun. Im Augenblick könnt Ihr nichts tun«, betonte Lodesh sanft, als Strell wieder zu Alissa hinüberschaute. Der gefühlvolle Blick des Pfeifers entging Talo-Toecan völlig, Lodesh jedoch bemerkte ihn sehr wohl, und er spürte einen Stich geteilten Kummers. »Wie Ihr richtig erraten habt«, sagte er, als Strell seinem Blick begegnete, »hat Bailic endlich die richtige Schlussfolgerung gezogen.«
»Ich bin eingeschlafen«, stöhnte Strell.
»Ja, Ihr seid eingeschlafen«,
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