Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
der Bewusstheit kehrt auch die gesunde Angst zurück. Alissa wird sie erst überwinden müssen. Zumindest wird sie einige Zeit brauchen, sich auf ihr neues Massen-Größen-Verhältnis einzustellen. Sie wird leichter sein, als sie verstandesmäßig erwartet, denn die meisten ihrer Knochen sind praktisch hohl. Es könnte eine ganze Weile dauern«, endete er betrübt.
Strell verzog das Gesicht und stellte die unvermeidliche Frage: »Wie lange?«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Talo-Toecan säuerlich. »Ich habe keinerlei Erfahrung hiermit.«
»Habt Ihr denn gar keinen Anhaltspunkt?«, drängte Strell.
Der Meister verbarg die langen Hände in seinen Ärmeln. »Ich selbst habe – und behaltet das hübsch für Euch, Lodesh, denn sonst werde ich Euch jagen und abschlachten wie ein Schaf – einen ganzen Sommer dafür gebraucht. Aber ich war ein Jungtier, kaum groß genug, um die – äh – das spielt jetzt keine Rolle. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass meine Koordination noch sehr zu wünschen übrig ließ.«
»Talo-Toecan«, rief Lodesh aus. »Ihr wart niemals jung.«
Talo-Toecan warf ihm einen gereizten Blick zu und fuhr fort: »Ich bin zuversichtlich, dass Alissa es schnell lernen wird. Sie besitzt bereits genug Koordination und Kraft, und es war offensichtlich, dass sie das Fliegen beherrscht.« Schmerzhaft dehnte er Rücken und Schultern und runzelte die Stirn. »Sie braucht nur das nötige Selbstvertrauen.«
»Das«, erklärte Lodesh, »ist etwas, an dem es ihr gewiss nicht mangelt.« Strell brummte zustimmend. »Dann ist es also ausgemacht«, sagte Lodesh laut, ohne sich darum zu kümmern, dass er Alissa wecken könnte. »Strell wird mich begleiten, und die beiden geflügelten Träumer werden sich uns anschließen, sobald es ihnen genehm ist. Lasst Euch nur nicht zu lange Zeit«, riet er düster. »Sonst lassen wir Euch vielleicht nichts übrig.«
»Bailic wird dort sein?«, fragte Strell mit grimmig entschlossener Miene.
»Ja«, lautete Lodeshs leise Antwort.
»Dann komme ich natürlich mit.«
»Das dachte ich mir.«
Strell wandte sich in Richtung Ese’ Nawoer und drehte sich dann wieder zu Alissa um. »Ihr wird nichts geschehen?«
Statt einer Antwort nahm Talo-Toecan seine Raku-Gestalt an, streckte sich noch einmal und ließ sich dann in der Sonne nieder. Er legte den Schwanz über seine Schnauze, so dass dessen stumpfe Spitze auf einer von Alissas Schwingen zu liegen kam. Falls er einschlief, was wahrscheinlich war, würde er es sofort bemerken, wenn sie aufwachte.
Strell war damit offenbar zufrieden und warf Alissa einen gefühlvollen Blick zu. Sie schimmerte prächtig und golden wie das Leben selbst. »Auf Wiedersehen, meine Liebste«, flüsterte er so leise, dass nur Lodesh es hörte. »Wir sehen uns bald wieder, hoffe ich.« Dann wandte er sich mit einem energischen Nicken ab. Gemeinsam machten er und Lodesh sich nach Osten auf den Weg. Am Rand der Lichtung blieben sie stehen, um aus dem Schatten der Tannen einen letzten Blick zurückzuwerfen.
Die warme Frühlingssonne beschien die Lichtung und erfüllte sie mit dem Duft nasser Erde und sprießenden Grüns. Einen scharfen Kontrast dazu bildeten die zersplitterten Stümpfe abgeknickter Bäume, deren Überreste über die vormals so friedvolle Lichtung verteilt lagen. Felssplitter im offenen Gras sahen aus wie helle Sonnenflecken unter einem Blätterdach. Die Vögel hatten die freie Fläche bereits wieder erobert – die Anwesenheit der Menschen hatte sie gestört, die der Rakus hingegen nicht. Ihre dünnen, flötenden Stimmen schienen die aufregenden Ereignisse des vergangenen Vormittags zu diskutieren. Und in der Mitte lagen die Rakus, einer alt, einer jung, beide golden, beide schlafend, ein Anblick, der ebenso unwirklich wie natürlich wirkte.
»Niemand«, flüsterte Strell, »wird mir je glauben.«
Lodesh lächelte. »Deshalb werden solche Ereignisse auch als Geschichten erzählt, mit denen man Kinder unterhält.« Er klopfte Strell auf die Schulter und setzte ihn damit wieder in Bewegung. »Habt Ihr sie tatsächlich auf dem Grund einer Schlucht gefunden? Was unter allen Himmeln hatte sie da unten zu suchen?«
– 36 –
O h, ihr Kopf, stöhnte sie stumm und kniff fest die Augen zu , damit sie ihr nicht aus den Höhlen fielen. Diese Ungeheuerlichkeit von einer Existenz war schlicht unwirklich. Alissa hielt den Atem an, für den Fall, dass selbst das Atmen ihren Zustand verschlimmern sollte. Doch sie musste atmen, also
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