Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
fragte: »Wie lange?«
»Nicht besonders lang. Vielleicht ein Jahrzehnt«, lautete Talo-Toecans Antwort. »Oder ein paar Jahre mehr oder weniger«, beendete er in entschuldigendem Tonfall seine Erklärung, als Strell blass wurde.
»Oh.« Strell verzog entsetzt das Gesicht. Offenkundig war er im Augenblick zu mehr nicht fähig.
Lodesh verging das Lächeln über Strells Verwirrung. In ihm regte sich etwas, so schwach, aber zwingend wie das Schluchzen eines verängstigten Kindes, das sich versteckt hat. Seine Stadt brauchte ihn. Noch nicht, aber bald. »Ich muss gehen«, sagte er, stand auf und wippte rastlos auf den Fersen.
Talo-Toecan erhob sich langsam. Strell tat es ihm hastig nach. »So bald?«, fragte der Meister. »Ich hatte angenommen, Ihr würdet gern dabei sein, wenn Alissa ihre neue Position klar wird.«
Lodesh nickte, sagte dann aber nüchtern: »Nein, ich muss zurück in meine Stadt. Es ist ein langer Weg.«
»Ihr müsst zu Fuß gehen?« Strell starrte ihn erstaunt an.
»Ich weiß, was Ihr denkt«, sagte Lodesh leise. »Fragt lieber nicht. Ich lerne selbst noch die Regeln dieser neuen Existenz als Revenant. Es ist gar nicht so anders, als lebendig zu sein. Ich friere. Ich muss essen. All die Unannehmlichkeiten des Lebens eben«, sagte er mit einem Grinsen, bei dem seine Zähne aufblitzten, »und möglicherweise auch all seine Annehmlichkeiten.«
Talo-Toecan zog nachdenklich eine Augenbraue hoch, als er diese neue Information einzuschätzen versuchte.
»Aber Ihr wart vorhin so schnell da«, wandte der verwirrte Mann ein.
»Ah.« Lodesh tippte sich gewitzt an die Nasenspitze. »Ich wusste, wann ich aufbrechen musste, um zur rechten Zeit da zu sein.«
»Sein Gefühl für so etwas war schon immer untrügerisch«, sagte Talo-Toecan. »Es ist praktisch legendär.«
Lodeshs Hand hob sich zu seinem Anhänger und betastete das fein gearbeitete Silber. Dabei spürte er, wie die fröhliche Pose von ihm abfiel und auch sein Gesicht ernst wurde. Er fühlte sich wieder wie der überlastete Vogt des wohlhabenden und schwierigen Stadtvolks, der er einst gewesen war, und seufzte. So ernst und müde, das wusste er, wirkte er nicht nur fähig, sondern geradezu berufen, trotz seiner offensichtlichen Jugend.
»Bailic ist in meiner Stadt«, erklärte er. »Das gefällt mir nicht. Er hat die Erste Wahrheit. Sie gehört jetzt Alissa, ganz gleich, was Ihr vielleicht glauben möchtet, alter Freund. Das Buch könnte als Unterpfand dafür gelten, dass Alissa Bailic befugt hat, an ihrer Stelle zu handeln. Damit könnte er die geschuldete Treue einfordern.«
Talo-Toecan nickte beunruhigt. Er blickte zwischen Alissa und Strell hin und her. Auch der Pfeifer hatte sich dem jungen Raku zugewandt, mit einem beinahe hungrigen Ausdruck in den Augen. »Sofern es Eure Zeit erlaubt«, bat Talo-Toecan Lodesh mit demonstrativer Geste, »könnte ich Euch noch kurz sprechen?«
Lodesh neigte höflich den Kopf, und gemeinsam entfernten sie sich ein Stück weit. Strell nutzte ihre Abwesenheit, um Alissa näher in Augenschein zu nehmen – nun, da er nicht mehr Gefahr lief, gebissen oder zertrampelt zu werden. Vorsichtig ging er einmal um sie herum, die Hände sicher hinter dem Rücken verschränkt.
Talo-Toecan beobachtete diese zögerliche Inspektion und runzelte finster die Stirn. »Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, begann er.
»Aber natürlich.« Auch Lodesh beobachtete den Pfeifer, doch seine Gedanken waren von geduldigem Verständnis und ein wenig Eifersucht geprägt.
»Ihr kennt die Eigenheiten der Menschen besser als ich«, sagte Talo-Toecan. »Ich habe sie nicht so sorgsam studiert wie Ihr.«
Lodesh neigte erneut den Kopf in Anerkennung des Kompliments. »Das ist mein zweiter Beruf«, gestand er bescheiden.
»Hm.« Der alte Meister dehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schultern. »Asche, bin ich müde. So bin ich nicht mehr geflogen, seit Keribdis und ich – nun, seit einer ganzen Weile.«
Lodesh lächelte. »Wartet nur ab. Morgen wird es erst richtig wehtun.«
Ein Lächeln huschte über Talo-Toecans Gesicht. Dann seufzte er und wandte sich wieder nach Strell um. »Ich bin zuversichtlich, dass diese Vernarrtheit rasch vergessen sein wird, sobald der Pfeifer fortgeht. Dann wird Alissa frei sein für einen passenderen Gefährten – vor allem jetzt, da sie in ihrer Raku-Gestalt gefangen ist. Bedauerlicherweise könntet Ihr aber auch recht haben mit Eurer Vermutung, dass Alissa ihren neuen Rang aufgeben könnte,
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