Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
um ihm zu folgen. Wenn sie etwas will, ist sie sogar noch hartnäckiger als ich. Möglicherweise«, gestand er Lodesh langsam, »wäre es für alle Beteiligten das Beste, in Strells Fall eine Ausnahme zu machen, damit wir Alissa auf jeden Fall im Auge behalten können.«
»Beim Licht des Navigators!«, rief Lodesh in gespielter Überraschung aus. »Ihr wollt Eure Regeln brechen?«
»Bitte«, sagte Talo-Toecan gequält, »falls sich das je herumsprechen sollte – nun, es ist ja niemand mehr da, der mich dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, nicht wahr?« Gedankenverloren hielt er inne. »Doch bevor ich meine Feste irgendjemandem öffne, der kein Bewahrer ist oder werden kann, muss ich seinen Charakter möglichst genau kennen.«
Lodesh spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. »Talo-Toecan! Ihr nehmt Eure väterlichen Pflichten sehr ernst.«
»Lodesh«, tadelte der Meister ihn brummelnd. »Sie ist meine Schülerin. Ich bin eben besorgt um sie. Sie ist noch sehr jung, und wenn Ihr recht habt, läuft sie Gefahr, ihre Zuneigung einem Mann zu schenken, dem nur ein Bruchteil ihrer Lebensspanne zur Verfügung steht.«
Lodesh gefiel das ganz und gar nicht. »Ihr wünscht, dass ich ihn ausforsche?«
»Nein. Ich wünsche, dass Ihr ihn einschätzt.« Talo-Toecan drehte sich um und beobachtete, wie Strell erschauerte, als er mit den Fingern leicht über eine von Alissas Klauen strich. »Sprecht mit ihm«, sagte er und ließ Strell nicht aus den Augen, während ihm ein leises, warnendes Grollen entschlüpfte. »Ihr könnt den Charakter eines Menschen besser beurteilen als ich. Ich würde es ja selbst versuchen, doch er begegnet mir verständlicherweise mit einer gewissen Scheu.«
Lodesh rieb sich den Nacken. »Ich weiß bereits, dass er ihrer würdig ist«, erklärte er knapp.
»Ja, das ist unverkennbar«, gestand Talo-Toecan, und Lodesh wurde leichter ums Herz. »Ich will wissen, ob er der harten Aufgabe gewachsen ist, als Bewahrer zu leben, ohne ein funktionierendes Netz von Pfaden, ohne den Schutz, den die Fähigkeiten eines echten Bewahrers ihm bieten würden.« Talo-Toecans Blick rückte in die Ferne, als er sich in Erinnerungen verlor. »Sich an einen Raku zu hängen ist ein hartes Leben«, sagte er. »Man findet sich in einer interessanten Patsche nach der anderen und zieht sich leicht die seltsamsten Narben und Gebrechen zu.«
Mit einem verständnisvollen Nicken blickte Lodesh zu Alissa hinüber, die in der Sonne schlummerte. »Ihr macht Euch Sorgen, sie könnte die Beherrschung verlieren und ihn versehentlich verbrennen, und Ihr wollt wissen, ob er mutig genug ist, ihr dennoch die Stirn zu bieten, obwohl ihm bewusst ist, wie tendenziell fatal solche Standhaftigkeit sein könnte?«
»So ungefähr.«
»Keine Sorge, alter Freund«, sagte er. »Ich werde herausfinden, ob der Junge wirklich mutig genug ist, um Eure Tochter zu werben.« Begeistert über seinen eigenen Witz, lachte er laut heraus.
»Lodesh«, grollte Talo-Toecan.
Den letzten Lacher noch auf den Lippen, ging Lodesh über die zertrümmerte Lichtung. »Strell!«, rief er freundschaftlich. »Kommt mit mir. Wir haben eine Aufgabe zu erledigen.«
Strell richtete sich neben Alissa auf und sah ihn verblüfft an. »Aber …« Er machte eine fragende Geste, und es war offensichtlich, dass er nicht mitkommen wollte.
»Diese beiden übergroßen Eidechsen brauchen ihr Mittagsschläfchen«, scherzte Lodesh frech.
»Aber Alissa –« Diesmal war er schon ein Wort weitergekommen.
»Wird es an nichts fehlen«, beendete Lodesh den Satz. Er wandte sich um und fragte: »Talo-Toecan, werdet Ihr nachkommen, wenn sie aufgewacht ist?«
»Ja«, antwortete er. »Doch das könnte eine Weile dauern. Sie wird erst das Fliegen lernen müssen.«
Lodesh blickte erstaunt drein, und Talo-Toecan lachte. Das satte Geräusch erfüllte die Lichtung und verdrängte die letzten hässlichen Erinnerungen des Nachmittags. Sogar Strell musste lächeln. »Ha!«, rief Talo-Toecan. »Ihr wisst also doch noch nicht alles, nicht wahr?«
Lodesh runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Das habe ich nie behauptet«, erklärte er bestimmt.
Strell stakste zu Lodesh hinüber. »Sie ist doch schon geflogen«, sagte er und fing sich gerade noch rechtzeitig, als er auf einem losen Steinbrocken ausrutschte. »Ich habe es gesehen.«
Talo-Toecan legte die Spitzen seiner langen Finger aneinander und warf sich in seine Lehrer-Pose. »Das war instinktives Fliegen, als Bestie«, erläuterte er. »Mit
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