Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Dass du dieses Papier gefunden hast, ist kaum zu glauben. Ich hätte es nie so schnell finden können. Wenn das Buch geöffnet ist, bleib hier und leih mir deine Augen. Ich garantiere für deine Sicherheit, solange du in meinen Diensten stehst. Denk darüber nach«, sagte er und beugte sich vor, während Alissa einen weiteren Schritt zurückwich. »Es wird einen Krieg geben. Es wird eine neue Ordnung entstehen. Ich werde sie lenken, und ich werde entscheiden, wer gedeiht und wer untergeht. Wäre es nicht angenehm«, säuselte er, »bei demjenigen, der solche Entscheidungsgewalt hat, ein offenes Ohr zu finden?«
»Ich verstehe«, flüsterte sie, und ihr wurde übel.
Nickend lächelte er, als hätte sie eingewilligt. »Du wirst mein Angebot überdenken?«
Alissa konnte nur noch an Flucht denken und setzte eine absolut nichtssagende Miene auf. »Ja.«
»Gut. Ich habe die Töpferscheiben in die Stallungen geräumt.« Er zögerte. »Ich werde deine Antwort jederzeit entgegennehmen.«
Alissa, die ziemlich sicher war, dass sie dieses Angebot niemals akzeptieren würde, fühlte sich schmutzig, als sie ging. Sie wollte jemandem erzählen, was geschehen war, eine Art Geständnis, um sich zu läutern, doch Strell würde sie es nicht erzählen, weil sie fürchtete, er könnte etwas tun, das den gefallenen Bewahrer endgültig gegen ihn aufbrachte. Wenn sie es Nutzlos erzählte, würde ihr das nur eine Lektion eintragen. Kralle würde es völlig gleichgültig sein. Diese Sache, so entschied sie, behielt sie wohl besser für sich. Doch zumindest hatte sie eine Töpferscheibe für Strell aufgetrieben.
– 6 –
S chon wieder zu spät, Pfeifer?« Bailic stand allein im Übungsraum, während die Sonne über den Hügeln aufging. Er war nicht überrascht. Doch das bedeutete nicht, dass er die Ausrede des Pfeifers akzeptieren würde.
Bailic zwang sich, seine Anspannung zu lösen, und goss sich aus der mit einem dicken Tuch warm gehaltenen Kanne Tee nach. Er hatte die Kanne hier vorgefunden, mitsamt seinem Frühstück: Haferbrei, mit Tee statt mit Wasser gekocht. Zumindest das Mädchen stand also halbwegs pünktlich auf. Möglich, dass er sie tatsächlich behalten würde. Jemanden um sich zu haben, der ihn kannte, mochte angenehm sein, wenn die Welt sich veränderte, wie es ihm gefiel. Und die Welt würde sich verändern.
Der Dampf aus seiner Tasse verschleierte seine ohnehin schon schlechte Sicht. Bailic brachte sich zur Ruhe und sandte seine Gedanken auf der Suche nach dem Mädchen und dem Pfeifer aus. Die Küche war leer, ebenso die Treppe. Seine Augen wurden schmal, als er die beiden im Bewahrertrakt fand. Die aufgehende Sonne wärmte ihm den Rücken, und sobald es ihm zu warm wurde, ging er zu seinem Stuhl, der im Schatten stand. Er ließ sich darauf niedersinken und beugte sich vor, um zärtlich mit dem Zeigefinger über die Erste Wahrheit zu streichen, die neben ihm auf einem Tischchen lag.
Bailic hatte das Buch heute Morgen mit heruntergebracht, um seinen allzu selbstgefälligen Schüler aufzurütteln. Es würde den Pfeifer daran gemahnen, warum er überhaupt noch hier war und nicht längst zu Asche verbrannt. Ein kleiner Anreiz, dachte Bailic, damit sein Schüler sich mehr Mühe gab. Offensichtlich brauchte er etwas zusätzliche Ermunterung.
Seit er dem Pfeifer vor zwei Wochen diese Prise Quellenstaub gegeben hatte, hatten sich kaum Fortschritte gezeigt. Apathisch wäre wohl das passende Wort, um seinen Schüler zu beschreiben. Der Tiefländer schien ihn durchaus zu verstehen; er stellte die zu erwartenden Fragen und gab die richtigen Antworten. Doch er hatte keinerlei Drang danach gezeigt, auch wirklich etwas zu tun. Bailics eigene Unterweisung war stark davon geprägt gewesen, dass Talo-Toecan in seinen Geist eindrang und ihm genau zeigte, was er wollte. Als Bewahrer konnte Bailic das jedoch nicht. Das machte alles nur umso schwieriger.
Stirnrunzelnd stellte Bailic seinen Becher neben das Buch. Heute würde es Fortschritte geben, oder er würde das Mädchen dafür bezahlen lassen. Das war allerdings eine mühselige Art, etwas zu erreichen. Vielleicht sollte er sich doch wieder seinen alten Methoden zuwenden. Er hatte schon stärkere Männer als den Pfeifer gebrochen. Er konnte ihn nicht töten, aber es gab eine Menge dauerhafter Schäden, die nicht lebensbedrohlich wären. Der Pfeifer wähnte sich allzu sicher. Er musste daran erinnert werden, wie gefährlich seine Situation war, damit er sich in Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher