Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
gar nicht«, erwiderte Strell und stützte sich auf einen Ellbogen. »Oder?«
Sie runzelte die Stirn, als sie sich Strell ohne Haare vorstellte. »Ich möchte es nicht unbedingt herausfinden.« Seine Gesichtszüge waren schlaff, und er blinzelte, als hätte er Mühe, deutlich zu sehen. »Ich warte draußen auf dich«, sagte sie und huschte peinlich berührt hinaus. Er sah entzückend verletzlich aus, so weich und verschlafen.
Da sie wusste, dass er eine Weile brauchen würde, hob sie ihr Tablett wieder auf und ging zum Treppenabsatz, um dort auf ihn zu warten, doch ein lauter Ruf von Bailic ließ sie nach drei Schritten innehalten. Dass er seinem Unmut so ungezügelt Luft machte, war sehr ungewöhnlich und weckte Besorgnis in ihr.
Hinter Strells Tür brach hektische Aktivität aus, und gleich darauf trat er auf den Flur, unrasiert und in ungeschnürten Stiefeln. Überrascht blieb er stehen, als sie ihm das Tablett entgegenstreckte. »Ich dachte, du hast bestimmt Hunger«, sagte sie.
»Ja. Danke«, erwiderte er und nahm es. »Das ist nicht für Bailic?«
»Nein. Du bist sehr spät dran. Er hat sein Tablett schon.«
Strell verzog das Gesicht, und sie liefen den Flur entlang. »Bei den Wölfen«, klagte Strell. »Heute ist er wirklich übel gelaunt. Ich konnte ihn durch die Wände hören.«
Alissa packte seinen Ellbogen, um ihn zu stützen, als er auf der Treppe stolperte. »Ich vermute, er wird wieder ungeduldig«, sagte sie.
Strell nickte gähnend. »Heute werde ich mich zum wahren Künstler entwickeln, was Felder angeht, zumindest in der Theorie. Das sollte ihn für eine Weile beruhigen.«
Sie erwiderte sein Lächeln, doch es erlosch sogleich wieder. Strell konnte nun einmal nicht allzu viel tun oder auch nur vorspielen. Nutzlos hatte ihr nicht erlaubt, an Strells Stelle irgendwelche Banne oder Felder zu schaffen, weil sie angeblich noch nicht genug Kontrolle darüber hatte. Sie verstand nicht, warum sie gut darin sein musste. Nicht einmal Bailic konnte erwarten, dass Strell so etwas beim ersten Mal richtig machte.
Im Übungsraum herrschte Angst einflößende Stille, als sie die Tür erreichten. Das bernsteinfarbene Licht der aufgehenden Sonne fiel in den Flur hinaus, und Alissas Hoffnung, sie hätten es doch noch pünktlich geschafft, war zerschmettert. Sie hielt sich einen Schritt hinter Strell, der zuerst eintrat. Mit gesenktem Blick schlich sie zu ihrem üblichen Sitzplatz in der Sonne, denn sie wollte es nicht riskieren, Bailics Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie sich, wie sonst, erst einen Becher Tee holte.
Bailic stand mit verschränkten Armen da, und sein Schatten erstreckte sich bis zur halben Höhe der gegenüberliegenden Wand. »Du kommst zu spät«, sagte er. Das waren meist seine ersten Worte am Morgen.
»Entschuldigung«, sagte Strell. Sie beobachtete, wie Strell an seinem schiefen Kragen herumfummelte, wohl in der Hoffnung, dass Bailic die Sache auf sich beruhen lassen würde, wenn Strell einen zerknirschten Eindruck machte. Strell griff nach der Kanne, goss sich einen Becher Tee ein und ignorierte Bailics Schweigen vollkommen. Alissa ließ sich in den kalten Polstern nieder und zog ihre Näharbeit hinter einem Kissen hervor. Das Kleid, an dem sie arbeitete, war aus schwarzem Leinen, und wenn sie damit fertig war, würde sie sich ein passendes Tuch dazu schneidern.
Ein schwaches Ziehen, eine vertraute, kribbelnde Unruhe weckte ihre Aufmerksamkeit und ließ sie suchend aufblicken. Ihre Augen weiteten sich, und sie glaubte, ihr müsste das Herz stehen bleiben. Ihr Buch. Bailic hatte ihr Buch mit heruntergebracht. Es lag auf dem kleinen Tischchen neben seinem Stuhl und war in ein schützendes Feld gehüllt, so stark, dass es als schwaches Schimmern sichtbar wurde. Was hatte er ihrem Buch angetan, dass es so etwas hervorbringen musste?
Ihr Herz raste beim Gedanken daran, wie nahe es war, und mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, riss sie sich von dem Anblick los. Verzweifelt warf sie Strell einen Hilfe suchenden Blick zu. Er erwiderte ihn verständnislos, bis ihr Blick wieder zu dem Buch hinüberhuschte. Seine Lippen teilten sich erstaunt, und er starrte es an. Zu Asche will ich verbrannt sein, dachte sie. Wie sollte sie sich jetzt zurückhalten? Es lag hier, direkt vor ihr.
Strell beugte sich vornüber und stand auf. Er nahm seinen vollen Becher, aus dem er noch nicht getrunken hatte, und brachte ihn ihr, wobei er ihr die Sicht auf das Buch verstellte und
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