Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
energischer bemühte. Es war beinahe so, als wollte der Mann seine Unterweisung absichtlich in die Länge ziehen, bis der Schnee schmolz und er eine Chance hatte, die Flucht zu ergreifen.
»Flucht ist unmöglich«, sagte Bailic und strich mit dem Zeigefinger über das uralte Buch. »Ich werde seinen Verstand für meine Lehren öffnen, wie ich eines Tages deine Schließe öffnen werde.«
Das Buch hatte jeden seiner Versuche, es aufzuschlagen, vereitelt. Sobald es in seinen Besitz gelangt war, hatte er seine Bemühungen zunächst auf den schweren Verschluss konzentriert. Nachdem er sich die Fingerspitzen blutig gerissen hatte, hatte er es mit seinem Messer versucht. Die Klinge lag nun unter seinem Kopfkissen, von den schützenden Bannen des Buchs in drei Teile gesprengt. Er hatte Glück gehabt. Das hätte sein Körper sein können.
Diesen Gedanken fest im Kopf, hatte er vorsichtig versucht, es mit einem eigenen Bann zu öffnen. Seine ersten, zaghaften Versuche waren auf schwachen Widerstand gestoßen, doch jeder weitere Bann, den er ausprobierte, rief eine heftigere Reaktion hervor; mittlerweile hüllte sich das Buch selbst beim geringfügigsten Bann augenblicklich in ein schützendes Feld. Wenn er versuchte, das Feld zu entfernen, verstärkte das Buch seinen Schutz. Wenn er versuchte, das Buch zu berühren, ehe es das Feld von allein wieder aufgab, brachte ihm das einen scharfen, schmerzhaften Energiestoß ein, der sengend durch seine Pfade schoss. Diese leichte Verbrennung bereitete ihm dann Kopfschmerzen, die manchmal tagelang anhielten.
»Nicht so wichtig«, säuselte er. »Du gehörst mir.« Bailic riss die Hand zurück, als ein silbrig umrandetes Feld um das Buch erblühte und seine Finger sich warnend verkrampfen ließ. Er hatte nicht einmal einen Bann gewirkt. Es hatte schon allein auf seinen unbewussten Wunsch hin so reagiert. Er stieß einen frustrierten Schrei aus, stand auf und ging hinaus in den Flur. »Pfeifer-r-r!«, bellte er.
Er stürmte zurück zu dem Buch und starrte empört darauf hinab. »Mein«, spie er förmlich aus. Jetzt könnte es bis Sonnenuntergang dauern, ehe das verabscheuungswürdige Ding seinen Schutzschild fallen ließ und er es wieder berühren konnte. Bailic schritt nervös den langen Raum ab und fuhr herum, als er die Fenster erreichte. Düster starrte er das Buch an, das unter seinem silbrigen Schutzfeld schimmerte. »Ich sage, du gehörst mi r, schwor er ihm.
– 7 –
A lissa trat vor Strells Zimmer in besorgter Unentschlossenheit von einem Fuß auf den anderen. Die Sonne beschien bereits den Turm der Feste. Bald würden ihre Strahlen auch den Übungsraum erreichen. Alissa hielt ein Tablett mit einer kleinen Kanne Tee und einem süßen Brötchen für Strell in den Händen. Er war nicht zum Frühstück heruntergekommen, und es war zu spät für ihr übliches gemeinsames Morgenmahl. Entweder hatte er verschlafen oder beschlossen, das Frühstück ausfallen zu lassen. Letzteres war schlicht undenkbar.
»Strell?«, rief sie durch die geschlossene Tür. »Bist du wach?«
Sie hielt den Atem an, lauschte und rückte das Tablett zur Seite, damit sie das Ohr an die Tür drücken konnte. Nichts. Sie wollte nichts Ungehöriges tun, doch ihr blieb keine andere Wahl – sie stellte das Tablett auf den Boden und schob die Tür einen Spaltbreit auf.
»Strell?«, fragte sie zögerlich und entdeckte den unförmigen Hügel unter der Bettdecke. Das Feuer im Kamin war erloschen, das Zimmer dunkel. »Strell. Steh auf. Du kommst zu spät.«
»Spät?«, nuschelte er verschlafen.
Da er offenbar vollständig zugedeckt war, fasste Alissa Mut und trat ein. Ein Bann, den ein längst verschwundener Bewahrer auf der Schwelle hinterlassen hatte, kribbelte kurz, erkannte sie und ließ sie passieren, da sie keine Bedrohung darstellte. Ihr Blick wurde unwiderstehlich von dem unheimlich aussehenden Riss in der Wand angezogen, der sich vom gegen die Kälte verzauberten Fenster bis zur Decke zog. Alissa hatte dummerweise versucht, den Bann um ihre Quelle zu entfernen, dabei einen Fehler gemacht und eine Explosion ausgelöst. Die Druckwelle hatte sich durch den gemeinsamen Schornstein ihrer beider Räume ausgebreitet, Strells Wand zerrissen und ihm eine leichte Gehirnerschütterung eingetragen. Errötend senkte sie den Blick wieder auf den Hügel im Bett. »Wach auf«, sagte sie. »Bailic hat gesagt, er würde dir sämtliche Haare vom Kopf zaubern, wenn du wieder zu spät kommst.«
»Das kann er
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