Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Bank ruhend, verbarg er seine seltsamen Hände in den weiten Ärmeln. »Es wäre leichter, ihn dir zu erklären, wenn wir beide in Gedanken deine Pfade vor uns sähen.«
Sie wappnete sich, nickte und schloss die Augen. Sie hörte sein zustimmendes Brummen, und diesmal war die aufflammende Empörung überraschend leicht zu unterdrücken, als sie ihm Zugang zu ihren oberflächlichsten Gedanken gewährte. Alissas Schultern sanken herab. Wie Nutzlos versprochen hatte, wurde es immer leichter, ihren geistigen Raum mit ihm zu teilen.
»Also« , dachte Nutzlos, »du hast bereits selbst aus gewissen Dingen abgeleitet, wie du in deinen Gedanken Felder erschaffen kannst?«
Sie nickte und vergaß einen Moment lang, dass er es nicht sehen konnte. »Ja« , bestätigte sie und formte eine Blase in ihrem Geist.
»So schnell« , murmelte er und dachte dann lauter: »So ist es richtig. Für diesen Bann brauchst du ein dreid i mensionales Feld, das groß genug ist, um dein gesamtes neuronales Netz zu umspannen.«
»Das ganze Ding?« , fragte sie. Sie wusste zwar nicht, was dreidimensional bedeutete, doch die Länge und Breite ihrer Gedankenpfade kannte sie ganz genau.
»Es braucht keine große Masse zu besitzen« , dachte er. »Stell dir eine hohle Kugel aus Nebel vor, die jeden Winkel deines gedanklichen Musters bedeckt.«
Alissa war bereit, es zu versuchen; sie konzentrierte sich auf die Blase, oder das Feld, wie er es nannte, und dehnte sie aus.
»Gut« , ermunterte er sie. »Als Nächstes baust du die primäre Sequenz auf, während du gleichzeitig das Feld aufrechterhältst. Möglicherweise wirst du einige Vers u che brauchen, bis du die Balance gefunden hast, die n ö tig ist, um beides zugleich aufrechtzuerhalten, also lass dich nicht entmutigen.«
Alissa erinnerte sich an die Vormittage, die sie auf der langen Reise zur Feste mit ihren Übungen verbracht hatte – Übungen in der Kunst, mit ihren richtigen, wirklichen Augen und ihrem inneren Auge zugleich zu sehen. Einen steinigen Pfad entlangzulaufen, ohne zu stolpern, und dabei die Vision ihrer Quelle aufrechtzuerhalten, hatte ihr oft genug schmerzende Zehen und blaue Flecken an den Schienbeinen eingetragen. Sie hatte diese Fähigkeit schließlich gemeistert, allerdings hielt Strell sie seitdem für ziemlich unbeholfen. Dank dieser Übung fiel es ihr nun ganz leicht, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten, während sie das Feld und die Schleife gleichzeitig manipulierte. Die erste überkreuzte Schleife war erneut schimmernd aufgebaut, kaum dass sie daran gedacht hatte. Alissa wusste, dass sie inzwischen vermutlich grinste wie eine Idiotin, doch das war ihr gleich.
»Ah, sehr gut« , hörte sie ihn in ihren Gedanken, und sie grinste umso freudiger. »Würdest du mir jetzt bitte zeigen, wie dein neuronales Netz ausgesehen hat, bevor deine Verbrennung verheilt war?«
Alissa zögerte. »Wie soll ich das machen?«
»Aus deiner Erinnerung« , ermunterte er sie. »Ruf dir das Bild ins Gedächtnis. Dann wird es sich mir zeigen.«
Sie machte sich bereit und kehrte in ihrer Erinnerung zu dem Moment zurück, als sie in Panik den ersten Blick auf die verkohlten, verzerrten Überreste ihrer Pfade geworfen hatte.
»Bein und Asche!«, rief Nutzlos laut aus, so dass sie vor Schreck beinahe ihre Pfade aus dem Blick verloren hätte. Seine entsetzte Reaktion brach mit einer Woge von schockierend heftigem Abscheu über sie herein. Sie kämpfte darum, die Erinnerung an ihren verbrannten Geist festzuhalten, während er seine Emotionen energisch zügelte und gleich darauf wieder verborgen hatte. Doch sie hatte sie gesehen, und nun wusste sie, dass sie kein jämmerlicher Schwächling gewesen war, weil sie beinahe die Einladung der Herrin des Todes angenommen hätte. Nein, es war ein Wunder, dass sie das überlebt hatte.
»Alissa« , dachte er zitternd. »Ich hatte ja keine A h nung. Du bist dem Tod entronnen, aus – aus dem da?«
Sie musterte die vollkommene Zerstörung vor ihrer beider geistigem Auge, Asche und Schlacke, die nach kaltem, verbogenem Metall und Schnee roch. Nach seiner heftigen Reaktion fand sie den Anblick gar nicht mehr so schrecklich. Sie hatte es überlebt. »Mit Mühe und Not« , dachte sie knapp. »Strell hat mich dazu übe r redet, einen Weg zurück zu finden.«
»Ich wusste ja nicht …« , wisperte Nutzlos, offenbar stark beeindruckt von dieser Zerstörung. »Der Schmerz allein hätte … Selbst ich wäre …« Schaudernd ließ er den Gedanken unvollendet.
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