Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Finger zu wärmen, ohne sie dabei zu verbrennen. »Wie denn dann?« Alissa blickte vom Feuer zu ihm auf. Einen Moment lang glaubte sie, Entsetzen oder vielleicht auch Angst in seinen Augen zu sehen, doch der Ausdruck verschwand, ehe sie sicher sein konnte.
»Ich werde es dir sagen, aber ich will dein Wort darauf, dass du es nicht ausprobieren wirst.«
Stumm nickte sie. Es nur zu wissen würde ihr genügen.
»Er hätte ein starkes Feld darum herum geformt und die Moleküle innerhalb des Feldes mit der angemessenen Frequenz in Schwingung versetzt.«
»Wozu brauchte er denn das Feld?«, fragte sie und wunderte sich, wo man wohl ein Molekül herbekam.
»Um ein gewisses Maß an Kontrolle aufrechtzuerhalten«, lautete seine unbehaglich klingende Antwort.
»Ich verstehe.« Alissa nippte vorsichtig an ihrem Tee. »Das hört sich nicht schwierig an.«
»Ist es auch nicht.«
Sie tat einen tiefen Atemzug. »Warum habt Ihr Bailic dann nicht einfach verschmort, als Ihr die Gelegenheit dazu hattet?«
»Du meine Güte, sind wir auf einmal blutrünstig«, schalt Nutzlos.
Beschämt schlug Alissa die Augen nieder. »Das hätte vieles einfacher gemacht«, rechtfertigte sie sich.
Nutzlos seufzte. »Meinst du? Deine Betrachtungsweise ist gefährlich kurzsichtig. Bailic hatte eine Verbindung zwischen ihm selbst, dir und dem Buch geschaffen. Sie war so subtil, dass ich sie erst bemerkt habe, als wir unsere Feilscherei schon fast beendet hatten. Hätte ich seine Warnung nicht beachtet und ihn verschmort, wie du vorgeschlagen hast, dann wäre die Energie meiner Quelle zwischen euch allen dreien geflossen. Du wärst ebenso sicher vom Erdboden verschwunden wie Strells Finger, zu Asche verbrannt durch meine Unwissenheit und meinen Mangel an Beherrschung.«
Alissa biss sich auf die Unterlippe und erinnerte sich daran, dass sie eine solche Verbindung auch gespürt hatte, als Bailic sie gezwungen hatte, ihn nach Ese’ Nawoer zu begleiten. »Tut mir leid«, flüsterte sie dünn.
»Zweifellos.« Nutzlos fixierte sie mit einem durchdringenden Blick, und sie wich zurück. »Du kannst nicht durch die Welt laufen und alles in die Luft jagen, was dich stört, Alissa«, dozierte er. »Was würde dann aus uns werden? Stärke würde über Weisheit dominieren. Chaos würde entstehen, wenn Bewahrer und Meister um die Herrschaft ringen. Es wäre keine Zeit mehr, Wissen durch allmählichen Fortschritt zu erwerben, und wir würden zu unseren Ursprüngen zurückkehren und zu wilden Bestien werden, Menschen und Rakus gleichermaßen. Deshalb übe ich mich in Zurückhaltung.«
»Aber es sind keine Bewahrer mehr übrig«, protestierte sie.
»Genau das meine ich ja«, sagte Nutzlos. »Bailic hat in seiner Gier nach Dominanz meine gesamte Feste geleert. Was ihm an Kraft fehlt, das macht er durch Verschlagenheit mehr als wett. Du unterschätzt ihn noch immer. Behalte ihn gut im Auge, Alissa. Sei vorsichtig. Es gibt nicht einmal mehr Rakus am Himmel, und das ist sein Werk. Das ist etwas, das in den vergangenen zweitausend Jahren keinem Menschen je gelungen ist.«
Sie runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. Es gefiel ihr nicht, was er da sagte, doch sie war klug genug, ihm nicht offen zu widersprechen.
Nutzlos richtete den Blick auf die scharf glitzernden Sterne über der Mauer. »Es sollte nicht so geschehen«, sagte er bedauernd. »Du solltest eigentlich noch nicht einmal eine Quelle haben, die du nutzen kannst. Das ist eine zu große Versuchung für dich.«
Alissa blickte auf, verwundert über die Traurigkeit in seiner Stimme.
»Da ist so vieles, was du zuerst hättest erlernen sollen«, erklärte er sanft. »Eine ganze Philosophie der Beherrschung und Kontrolle, die dir helfen würde – du katalysierst eine wilde Kraft und müsstest erst lernen, sie zu zähmen.« Nutzlos wandte sich ab, das Gesicht angespannt vor Sorge. »Du musst begreifen, wie gefährlich dieses hübsche Wunder in deinem Geist in Wahrheit ist. Es birgt unendliche Möglichkeiten in sich, doch der Preis, der damit einhergeht, ist entsprechend hoch. Diesen Preis, den es von dir verlangt, bezahlst du, indem du nicht deinen Wünschen nachgibst, was sich einfach anhören mag, es aber nicht ist. Halte ein. Erkenne die finsteren Ziele, zu denen dein kleines Wunder von Existenz missbraucht werden kann. Deine Fähigkeiten können gegen dich eingesetzt werden, ohne dass du es auch nur bemerkst.« Er seufzte und sah zu, wie das Atemwölkchen über seinen Becher strömte.
Ein Zweig
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