Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Deckenbalken stieß. Er holte den dampfenden Teekessel vom Feuer und stellte ihn auf ein Tuch, bestickt mit Kolibris und Bienen. Lodeshs Blick wanderte von Talo-Toecans Händen, verdächtig zu Fäusten geballt, weiter hinauf.
»Das ist alles ganz falsch!«, explodierte der Meister unvermittelt. »Ich gebe ja zu, dass ich nicht viel darüber weiß, wie man mit ihr umgehen sollte, aber ich weiß sehr wohl, dass man es so früher nicht gemacht hat. Ich bin nur einer, ganz allein, Lodesh. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich tue.«
Lodesh gab unauffällig Teeblätter in die Kanne und ließ Talo-Toecan taktvoll schreien und toben. Sich mit einem Raku zu streiten, war niemals klug. »Meistens regeln die Dinge sich doch irgendwie«, bemerkte er schließlich langsam.
»Mag sein.« Talo-Toecan sank auf seinem Stuhl zusammen, den Blick starr in die Ferne gerichtet. »Aber ich glaube, ich werde meine Feste bald von Bailic befreien müssen. Wenn man unsere Lehrstunde von heute Morgen zum Maßstab nimmt, werden sich ihre Fähigkeiten sehr rasch bis zu dem Punkt entfalten, an dem die Lektionen des Buches absorbiert werden müssen – lange, bevor Bailics jämmerliches Leben auf natürlichem Wege sein unvermeidliches Ende findet. Zu Asche will ich verbrannt sein, Lodesh. Ich weiß nicht einmal, was sie getan hat, um Euch zurückzubringen. Ich kann sie nicht weiterhin so behandeln, als wäre sie eine einfache Schülerin!«
»Hmm.« Lodesh zog die Augenbrauen hoch, während er zusah, wie Talo-Toecans lange Finger steif auf der Tischplatte trommelten. Es war ungewöhnlich, dass sein Freund sich seine Sorgen so deutlich anmerken ließ. Das Schweigen dehnte sich aus, und er ließ es geschehen, denn er wusste, dass da noch mehr kommen würde.
»Wisst Ihr, was ich in ihrer ersten Unterrichtsstunde geschafft habe?«, bemerkte Talo-Toecan schließlich. »Ich hätte mir beinahe die Pfade versengen lassen. Ich war ein Narr.« Er lachte verbittert. »Nein, ich hatte Glück. Sie ist so ungeheuerlich schnell, sie besitzt eine angeborene Auffassungsgabe für die komplexesten Aufgaben, aber den Selbstschutz eines Säuglings. Ich hätte erwartet, dass sie längst … Asche, Lodesh, sie ist so gerissen und flink wie ein Wolf, doch all das ist verborgen unter der dämlichen Hilflosigkeit eines Schafs.«
»Ein Wolf, der unter Schafen aufgewachsen ist«, hauchte Lodesh, und Gedanken an die junge Frau wirbelten in seinem Kopf herum. Sie hatte ihn nicht wirklich erkannt. Damit hatte er auch nicht gerechnet. Die Erwartung, dass sie sich an etwas erinnerte, das bisher nur einer von ihnen beiden erlebt hatte, wäre unhaltbar. Doch er hatte ihn tief getroffen, dieser erschrockene Ausdruck in ihren weit aufgerissenen Augen, mit dem sie seinen hoffnungsvollen Blick erwidert hatte. Es war bereits zu spät. Reeve hatte recht gehabt. Er war ein grünäugiger Narr. Der Pfeifer hatte ihr Herz für sich gewonnen, ohne überhaupt zu wissen, dass es umkämpft sein könnte. Doch das bedeutete nicht, dass der Tiefländer es einfach so würde behalten dürfen.
Lodesh riss sich aus seinen Gedanken, als er Talo-Toecans argwöhnischen Blick spürte. Der Meister hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ein finsterer Ausdruck zog seine Brauen zusammen. »Ihr bleibt bei Eurer Haltung, einfach abzuwarten?«, fragte er beinahe vorwurfsvoll. »Bei den Wölfen, es wäre wirklich nicht viel nötig. Warum könnt Ihr mir nicht den Gefallen tun und ihn einfach aus einem Fenster stoßen?«
»Bailic ist Euer Problem, alter Freund«, sagte Lodesh mit dumpfem Kichern. »Ich muss mich um meine Stadt kümmern. Sie fordert ihren eigenen Preis und kommt lange vor meiner Verpflichtung gegenüber der Feste. Wenn ich mein Volk im Stich ließe, um zu versuchen, Bailics Leben zu beenden, wer wird dann all die Seelen zu ihrer lange verdienten Ruhe führen? Abgesehen davon weiß ich nicht, ob ich Bailic gewachsen wäre, und ich werde es nicht riskieren, noch einmal zu sterben. Nicht so rasch.«
Ohne aufzustehen, räumte Lodesh die leeren Teller aufs Fensterbrett. »Ein Geist kann sehr wenig ausrichten – ein schlechter Traum hier und da, vielleicht ein Buch, das von einem Regal fällt, saure Milch, Kleinigkeiten – aber ein Geist, der Fleisch besitzt?« Er errötete. »Der kann so viel mehr.« Er blickte aus dem Fenster. »Ich werde warten.« Talo-Toecans Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. Das Geräusch zog Lodeshs Aufmerksamkeit an. »Sorgt Euch nicht, mein langlebiger
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