Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Lichtschein wirkte er sehr grimmig. »Gebt auf Euch acht, Alissa«, fügte er hinzu. »Die wollen irgendetwas. Man bekommt nichts umsonst, schon gar nicht Macht.«
Sie ignorierte ihre aufwallenden Gefühle. »Ren?«, fragte sie leise. »Wohin gehst du?«
»Ins Tiefland«, sagte er. »So weit fort wie möglich.«
Alissa warf einen Blick zurück zum Turm und folgte ihm durch die Tür in der Mauer hinaus. »Geh an die Küste«, sagte sie – ein Versuch, seinem Leben eine bessere Wendung zu geben.
Er kniff gegen ihr Licht die Augen zusammen. »An die Küste?«
»Na ja – es ist schon fast zu spät, um das Hochland vor dem Schnee zu durchqueren«, log sie und war froh, dass sie eben aus dem Wirkungskreis des Wahrheitsbanns getreten war.
Er zuckte mit den Schultern. »Na schön. Ist wohl sowieso gleichgültig.« Er senkte den Blick. »Hier.« Ren reichte ihr ein dünnes Band, in einem komplizierten Muster aus fünf verschiedenen Blautönen geflochten. Alissa blinzelte und hielt das Stück geflochtenen Stoff lose in der Hand. Ein Band zu verschenken war ein Symbol tiefer Liebe und Verbundenheit, sowohl im Hochland als auch im Tiefland. Im Hochland schenkte ein Mann einer Frau ein Band, im Tiefland war es umgekehrt, da man sich dort ja weigerte, irgendetwas so zu machen wie im Hochland. Ihrer Mutter zufolge hüteten unverheiratete Tiefländer so etwas als öffentlichen Gunstbeweis einer jungen Frau, oder der Mutter einer jungen Frau.
»Es ist nicht für Euch«, platzte Ren mit roten Wangen heraus, als er ihre Verwunderung bemerkte. »Es ist für Kally. Würdet Ihr es ihr geben?«, bat er und konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Sagt ihr von mir Lebewohl, und dass ich unser gemeinsames Frühstück vermissen werde.« Mit hängenden Schultern wandte der junge Mann sich ab. Seine leisen Schritte waren zu hören, dann nichts mehr.
Alissa lauschte der Nacht, ungewöhnlich ruhig, weil die Kälte die Insekten zum Schweigen gebracht hatte. Zitternd kehrte sie in den Garten zurück. Die Tür schloss sich knirschend, und sie lehnte sich bedrückt dagegen.
»Sali hat gesagt, man könne die Zukunft verändern, wenn man sie vorher kennt«, bemerkte Bestie, die ungewöhnlich aufgeweckt war.
»Warum fühlt es sich dann so an, als hätte ich ihn in den Tod geschickt?«, flüsterte Alissa. Sie stieß sich von der Mauer ab und ging langsam durch die dunklen, wunderbar stillen Flure zu ihrem Zimmer. Doch sie fand keinen Schlaf und warf sich immer wieder auf ihrem Sessel herum. Kallys Haarband lag auf ihrem Kaminsims wie ein stummer Vorwurf. Der Mond schien zu hell, das Zimmer war zu stickig. Das Feuer machte zu viel Rauch und die Mäuse machten zu viel Lärm. Und dann beschloss auch noch jemand, dies sei der richtige Zeitpunkt, auf seiner Flöte zu üben.
Es war ein Tanzlied, und der flotte Rhythmus hämmerte sich in ihren Kopf wie neue Nägel in weiches Holz. Alissa starrte zur Decke auf und wurde immer zorniger, bis das Spiel gnädigerweise wieder aufhörte. »Na endlich«, brummte sie und kuschelte sich unter ihre Decke. Doch gleich darauf ging es wieder los. Stöhnend vergrub Alissa den Kopf unter ihrem Kissen. Kein Wunder, dass die Meister im Turm hausten. Zu ihrem großen Ärger begann nun auch noch Bestie, das Lied mitzusummen.
Alissa erstarrte, als sie »Taykells Abenteuer« erkannte, und verfluchte sich dafür, dass sie Breve das Lied beigebracht hatte. Irgendjemand besaß nicht nur die Dreistigkeit, es mitten in der Nacht zu spielen – dem Klang nach schien sich derjenige obendrein gleich nebenan aufzuhalten.
»Schön!«, fauchte sie. Sie stolperte über ihr Nachthemd, als sie aufsprang und auf den Flur stürmte. Ein leises, höfliches Klopfen wurde ignoriert, und ihr empört hineingesandter Gedanke fand das Zimmer leer vor. Die da drin wussten offenbar, wie man sich vor so einer Suche verbarg. »Ihr da drin!«, flüsterte sie laut. »Hört auf damit!« Doch die Musik spielte weiter. Alissa klopfte erneut und drückte die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen.
»Connen-Neute!«, heulte Alissa in den Geist des jungen Meisters, und sein erschrockenes Bewusstsein erwachte mit einem Schlag.
»Alissa! Was ist? Bist du verletzt?«
»Nei-i-in«, stöhnte sie. »Jemand spielt Flöte, im Zimmer neben meinem. Die haben die Tür abgeschlossen und tun so, als könnten sie mich nicht hören.«
»Da ist niemand«, nuschelte er. »Geh wieder schlafen.« Er seufzte tief.
»Windgefährte!«, fuhr Bestie ihn an. »Komm und
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