Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
fiel.
Reeve spuckte auf seinen Wetzstein. »Das ist eine seltsame Sammlung. Sieh mal. Da ist sogar ein Stiefel. Ein Damenstiefel.« Er zog die Brauen hoch. »Zu viel Glühwein.«
Lodesh grinste, streckte sich und angelte mit einer Fingerspitze nach dem Stiefel. Er sah verdächtig nach Alissas Stiefel aus, oder vielmehr Keribdis’. Er hatte ihn auf der Wiese gefunden. Etwas klapperte leise darin, und er drehte den Stiefel um. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als ein Euthymiensamen in seine Handfläche kullerte. Bleich starrte er darauf hinab. Sati besaß einen Samen, aber der Stiefel war zu klein für sie. Waren Sati und Alissa sich je begegnet?
»Wie verliert man überhaupt einen Stiefel?«, fuhr Reeve fort. »Zwei könnte ich ja noch verstehen.« Er lächelte und blies seiner Frau von der öligen Hand ein Küsschen zu. »Barfuß durch die Wiese zu laufen ist etwas für junge Leute …«
»Reeve!«, protestierte seine Mutter, die in ihrer verlegenen Freude gleich zehn Jahre jünger aussah.
»Aber einen Stiefel«, sprach er weiter. »Ich weiß ja nicht …«
Lodesh steckte den Samen in seine Tasche. Das konnte nicht Alissas Stiefel sein. Er stellte den Stiefel aufs Fensterbrett, da auf dem Tisch kein Platz war. Dann griff er nach seinem Brot und kaute methodisch.
Reeve räusperte sich. »Ich wünschte, du wärst mit mir hinübergegangen, Liebes. Wenigstens, um über die Beschwipsten zu lachen.«
»Du kennst mich doch. Ich kann den Lärm nicht ertragen.«
»Ach ja«, sagte er. »Du bist wie ein Meister, genauso schlimm. Zu viele Leute, und du versteckst dich im Schatten.«
Ein Lächeln huschte über Lodeshs Gesicht. Alissa war auch so. Er stützte das Kinn in die Hände und blickte verträumt aus dem Fenster. Wie zauberhaft, im Dunkeln tanzen zu wollen.
»Ich hätte dir gern Alissa vorgestellt«, fuhr Reeve laut fort. »Sie erinnert mich an dich, als du noch jünger warst. Sie trug sogar eine Kette aus Gänseblümchen. Erinnerst du dich, wie ich dir die früher gemacht habe?«
»Ja, Liebster.« Sie kicherte. »Aber jetzt weiß ich, dass du nur Spaß machst. Die Gänseblümchen sind bereits vor Wochen verblüht. Man müsste schon sehr weit laufen, um noch welche zu finden, fast bis ins Vorgebirge.«
Das rhythmische Knirschen von Metall auf Stein hielt einen Augenblick inne. »Mm. Trotzdem hat Alissa eine getragen, frisch wie – na ja – wie ein Gänseblümchen eben.«
Lodesh hob gerade den Becher und zögerte nun. Sein Mund schloss sich, und er stellte seinen Tee weg. Connen-Neute hätte ins Hochland hinabfliegen und sie pflücken können, aber Alissa hatte gesagt, sie sei den ganzen Tag lang mit ihm zusammen gewesen. Er hätte sie gewiss nicht so lange allein gelassen, wie es dauern würde, im Vorgebirge Blumen zu pflücken und wieder zurückzukehren. Connen-Neute musste sie folglich irgendwo in der Stadt gefunden haben.
Lodesh lächelte vor Vorfreude und nippte beruhigt an seinem Tee. Er würde sich umhören und herausfinden, wer es geschafft hatte, eine so spät blühende Sorte zu züchten. Dann könnte er einen Strauß bestellen, nun, da er wusste, dass sie sie mochte.
Seine Mutter blickte unbehaglich auf. »Lodesh«, schalt sie sanft, »nimm bitte diesen Stiefel vom Fensterbrett.«
Lodesh hatte ihn gerade in der Hand, als es schüchtern an der Tür klopfte. »Ich gehe schon«, erbot er sich. »Vermutlich jemand, der nach seinem verlorenen Taschentuch sucht.«
Reeve beugte sich über seine Arbeit und blickte nicht auf, als Lodesh die Tür öffnete und sein herzliches Lächeln sich in Erstaunen verwandelte. »Connen-Neute!«
Connen-Neutes verängstigter Blick huschte zu Reeve und fiel dann auf den Stiefel. »Danke«, nuschelte er, packte das Fundstück und eilte mit hastigen und dennoch möglichst würdevollen Schritten davon. Sobald er weit genug vom Haus entfernt war, ließ er den Stiefel fallen und verwandelte sich. Scharfe Krallen packten den Stiefel, der Raku erhob sich in die Luft und musste ungeschickt ein zweites Mal nach dem Stiefel schnappen, der ihm entglitt. Dann war er fort.
Lodesh starrte auf die leere Wiese hinaus. »Er gehört Alissa«, flüsterte er. »Wie ist sie mit nur einem Stiefel nach Hause gekommen? Connen-Neute kann sie nicht tragen. Kein Pferd will sie tragen. Sie müsste ja … Nein«, sagte er zu niemandem und schloss die Tür. Verwirrt setzte er sich ans Feuer, denn ihm war plötzlich kalt. Sie ist eine Bewahrerin, sagte er sich. Ihre Finger sind nicht zu lang,
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