Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Schwelle überschritten ist?«
»Wird sie verwildern und so bleiben«, beendete Redal-Stan den Satz. Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich vermute, als Strell dich zur Bewusstheit zurückgeführt hat, hast du ihn unbewusst zu einer Art Leitstern gemacht, an dem du dich orientieren konntest. Zweifellos hast du darauf aufgebaut und weitere Beziehungspunkte herausgebildet, während du Erfahrungen gesammelt und festgestellt hast, was unveränderlich bleibt und was nicht. Doch das Herz deines Weltbilds ist um ihn zentriert.«
»Und er ist nicht hier«, flüsterte Alissa, der eiskalt geworden war.
»Du verlässt dich auf mangelhafte Beziehungspunkte«, verdeutlichte Redal-Stan.
»Die Feste«, warf Connen-Neute ein. »Der Hain, ihr Zimmer, der Garten.«
»Könnten als solche dienen«, sagte Redal-Stan, »aber sie sind nicht exakt die gleichen Punkte, auf denen du im vergangenen halben Jahr aufgebaut hast. Die kleinen Feinheiten fehlen. Der Stand der Sonne, der Duft in der Luft; die Einzelheiten lassen dich im Stich, während du noch versuchst, sie mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was du kennst. Dass du nicht augenblicklich verwildert bist, sobald du hier ankamst, liegt, so glaube ich, an deiner Vertrautheit mit deinem – äh – Alter Ego. Jeder andere wäre binnen sechs Herzschlägen wild geworden.« Sein Blick richtete sich gedankenverloren ins Nichts.
Stoff raschelte leise, als Connen-Neute sich zur Tür umwandte. Sie hörten schwache Schritte – Lodesh, der mit dem Tee zurückkehrte –, und es fiel kein Wort mehr, bis er in der offenen Tür erschien.
»Ah, Lodesh!« Redal-Stan streckte begierig die Hand aus. »Danke. Wir haben eine lange Nacht vor uns.« Redal-Stan goss den Tee in drei Becher und ließ den vierten leer. »Aber du brauchst nicht auf deinen Schlaf zu verzichten. Du solltest wieder ins Bett gehen. Schließlich hast du morgen einen anstrengenden Tag vor dir.«
»Aber ich will bleiben!«, erwiderte er. »Es ist mir gleich, ob Alissa ein doppeltes Selbst hat.« Er schlug die Augen nieder und warf Alissa einen verstohlenen Blick zu. »Ich – habe nichts gegen Bestie.«
Dankbarkeit wallte in Alissa auf, doch Redal-Stan fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Geh schlafen. Wir müssen Bestie loswerden, statt sie noch zu fördern. Ach, ihr weibstollen Stryska-Jungs.«
Lodesh straffte die Schultern. »So habe ich das nicht gemeint.« Ausgerechnet in diesem Augenblick stellte Alissa ihren Tee beiseite und verzog das Gesicht. Er war wirklich bitter. Sie schmeckte es ganz deutlich. Lodesh sah ihren Gesichtsausdruck, und ihr Stirnrunzeln zerschlug auch noch den letzten Rest Stolz, der ihm geblieben war.
»Asche. Ich kann nicht einmal eine anständige Kanne Tee kochen, nicht wahr?«, sagte er angespannt.
»Er schmeckt gut!«, rief Alissa, trank einen großen Schluck und zwang sich zu lächeln.
Lodesh blickte von ihrem ängstlichen Grinsen zu Redal-Stans unberührtem Becher und dann zu Connen-Neute, der seinen Tee eine Armeslänge von sich weg abgestellt hatte. »Ja, das sehe ich«, murmelte er. »Ich gehe. Ihr braucht mich nicht mit weiteren nutzlosen Besorgungen zu beschäftigen.«
»Lodesh, warte«, flehte sie, doch er war schon gegangen.
Alissa erhob sich ungeschickt, um ihm nachzulaufen, doch Redal-Stans dunkle Hand hielt sie zurück. »Wir haben Dringenderes zu klären«, brummte er.
»Wichtiger als Lodeshs Gefühle?«, fuhr sie ihn an. »Er ist der Einzige außer mir, der Bestie nicht für ein Unkraut hält, das man ausreißen sollte.«
»Lodeshs Zukunft«, sagte Redal-Stan. Alissa erinnerte sich an die gestrige Entscheidung, ihn für das Amt des Stadtvogts vorzuschlagen, und setzte sich bedrückt wieder hin. In der Ferne schlug eine Tür zu.
»Die Familien mit verbrieftem Namen haben, wie vorherzusehen war, einen anderen Kandidaten aufgestellt«, sagte Redal-Stan, und Alissa hielt den Atem an. Vielleicht würde Lodesh dieses Schicksal erspart bleiben. »Sie haben Earan gewählt«, erklärte er. »Die Stadt wird sich morgen zwischen den beiden entscheiden.«
Ihre Hoffnung zerfiel zu Asche. Die Massen würden Lodesh wählen. Da war sie ganz sicher.
Redal-Stan nippte an seinem Tee und schluckte, als hätte er dabei Schmerzen. »Es obliegt mir, ihn morgen nach Ese’ Nawoer zu begleiten.« Er zögerte. »Ich will nicht. Du wirst mit ihm gehen.«
Alissa blickte verärgert auf. »Ich will auch nicht.«
»Das ist mir gleich«, erwiderte er milde. Connen-Neute machte ihr
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