Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
ich euch ein paar Erklärungen schuldig bin?«
– 33 –
A lissa atmete tief ein und vermisste den Geruch nach Regen. In Strells Zeit war es auch wärmer gewesen. In ihrem Zimmer nebenan brannte ein Feuer, aber Strells Präsenz war hier, obgleich sie ihn nicht mehr hören konnte, und sie wollte sein Zimmer nicht verlassen. Sie stieß den Atem aus und wandte sich Redal-Stan und Connen-Neute zu. »Aber ich kann gar nicht verwildern. Das habe ich Euch eben erklärt.«
Redal-Stan schüttelte den Kopf und bot ihr das in Honig marinierte Kalbfleisch an, das Lodesh ihnen heraufgebracht hatte. Der Meister hatte Lodesh ständig mit immer neuen Aufträgen hinausgeschickt. Momentan besorgte er ihnen Tee. Schaudernd lehnte Alissa das Fleisch ab, und Redal-Stan stellte ungläubig und zögerlich den Teller beiseite. Connen-Neute glitt näher, und die scheußlichen Happen begannen zu verschwinden.
Redal-Stan bemerkte es nicht, er ließ sich wieder auf der hässlichen Bettstatt nieder und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Es ist unvermeidlich«, beharrte er. »Dir fehlt eine Bindung an diese Zeit, und die Zeit selbst tut, was sie kann, um deine Einwirkung hier möglichst gering zu halten.« Er hielt inne, als er bemerkte, dass der Teller nicht mehr so voll war wie noch vor wenigen Augenblicken. Stirnrunzelnd stellte er ihn neben sich auf das Bett. »Allein indem du hier bist, bewirkst du Veränderungen. Kleine Änderungen, aber sie summieren sich eben.«
Connen-Neute stand auf. Er tat so, als müsse er sich strecken, und ließ sich dann näher an dem Teller wieder nieder.
»Ich glaube, die Zeit ist flexibel genug, um kleine Abweichungen durchaus zu gestatten«, sagte Redal-Stan. »Man hat schließlich einen freien Willen.« Geschickt nahm er den Teller, als Connen-Neute gerade danach griff, und stellte ihn auf seiner anderen Seite wieder ab. Bedächtig wählte er einen Bissen aus und kaute langsam. »Aber wie Wasser, so nimmt auch die Zeit die Form ihres Gefäßes an.«
Alissa seufzte. »Und das bedeutet …«
»Dass du hier nicht hergehörst.« Er zuckte mit den Schultern. »Ereignisse werden eintreten, die deine Einwirkung wieder verringern. Wenn du Connen-Neute nicht beim Verbalisieren geholfen hättest, dann würde es eben jemand anders tun.«
Sie nickte. »Ihr meint also, ich werde verwildern oder sterben.«
»Bei den Hunden, Alissa«, dachte Connen-Neute, begleitet von einem Luftschnappen. »Sei nicht so morbide.«
Redal-Stan blinzelte, ebenfalls überrascht von ihrer nüchternen Fassade. »Vermutlich«, sagte er. »Wenn man unsere Unterhaltung mit Bestie bedenkt, würde ich Ersteres erwarten. Die Veränderungen, die du hier bewirkt hast, werden entweder unter dem angesammelten Gewicht der Geschichte begraben, oder deine Handlungen waren von vornherein für jemand anderen vorgesehen.«
»Oder«, bemerkte Bestie trocken in Alissas Gedanken, »wir sind hier, um diese Dinge zu tun.«
»Aber warum sollte mich das verwildern lassen?«, protestierte Alissa.
»Ah.« Redal-Stan nickte. »Das ist die zweite Hälfte. Connen-Neute hat recht. Deine Beziehungspunkte sind falsch. Im vergangenen Frühjahr hast du dich vollständig neu definiert. Du bist von einem Mädchen aus dem Hochland zu einer Schülerin einer vermeintlich legendären Festung geworden und dann zu einer Meisterin derselben, alles innerhalb eines halben Jahres. Sand und Wind, Alissa. Du musstest die Überzeugungen deines ganzen Lebens mit völlig gegensätzlichen Tatsachen in Einklang bringen. Kein Wunder, dass wir den Verstand verlieren, wenn wir uns zum ersten Mal verwandeln. Wir verlieren unsere erste, realste Identität: unser körperliches Selbst.« Er warf einen Blick zur Tür, offenbar in sehnsüchtiger Erwartung des Tees. »Man braucht Zeit, um sich ein neues Selbstbild zu schaffen«, fuhr er fort. »Zeit und Stabilität. Ein einziger Sommer ist viel zu wenig. Zehn Sommer würden vielleicht reichen.«
»Aber ich habe keinerlei Schwierigkeiten mit der Verwandlung«, sagte sie und verzog das Gesicht, als Redal-Stan ihr das letzte Stückchen Fleisch anbot.
»Sich an eine neue körperliche Gestalt zu gewöhnen ist relativ einfach«, erklärte er. »Das geistige Bild von dir selbst ist viel schwieriger. Du hast die Beziehungspunkte deines ganzen bisherigen Lebens verloren, und dein Selbstbild ist sozusagen von den Rändern her bereits stark verschwommen.«
Connen-Neute sank auf dem Fensterbrett zusammen. »Und sobald da eine gewisse
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