Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
geritten. Sie lächelte schwach zu ihm auf und formte mit den Lippen die Worte: »Schon besser«, doch er wusste, dass das nicht stimmte.
Earan und Breve standen in einer anderen Ecke. Sein Bruder trug ein goldfarbenes Hemd mit passender Hose, sehr elegant, mit geflochtenen Schnüren und Silberknöpfen verziert. Jeder Zoll der Stadtvogt, so sah Earan aus, und er schenkte Lodesh ein gezwungenes Lächeln. Lodesh blickte an seinen eigenen Gewändern hinab, und seine Augenbrauen zogen sich in die Höhe. Der Mantel war dunkelgrün, seine übliche Farbe, schlichter als Earans, aber dennoch hervorragend geschnitten und verarbeitet.
»Woher ist denn dieser Mantel?«, fragte er ehrfurchtsvoll und betrachtete nun seinen Hut. Der war ebenso geschmackvoll wie der Mantel, genau das, was er selbst in Auftrag geben würde, wenn er es gewagt hätte, in die Truhen seines leiblichen Vaters zu greifen.
Reeve brummte befriedigt. »Deine Mutter und Nisi haben ihn mit Margas Hilfe ausgewählt.«
Lodeshs Kiefer klappte herunter. Es musste Wochen dauern, so prächtige Gewänder nähen zu lassen. »Ihr wusstet, dass dies geschehen würde?«, fragte er.
»Wir haben es erst gestern Abend erfahren«, sagte Reeve mit traurigem Lächeln. »Diese Sachen haben deinem Vater gehört.«
»Oh.« Nachdenklich befühlte Lodesh die Silberknöpfe, in die eine Euthymienblüte eingraviert war. Er hatte doch gewusst, dass er sie irgendwoher kannte.
Ein Chor verängstigt wiehernder Pferde war zu hören, und Redal-Stan stürmte in wehenden gelben Gewändern ins Zelt. »Alle da?«, fragte er brüsk. »Schön, fangen wir an.« Er baute sich in der Mitte des Zeltes auf. »Hüter, stellt Eure Eleven vor, und legt Eure Anträge dar. Breve?«
Breve nahm Earan beim Ellbogen und trat mit ihm vor.
Redal-Stan nickte respektvoll. »Was hast du diesen Mann gelehrt?«, fragte er.
»Ich habe ihn die Strategien von Krieg und Frieden gelehrt, Geschick mit dem Schwert und der Feder, Beredtheit in Worten und Taten und das Gleichgewicht zwischen Wollen und Haben«, sagte Breve.
»Wo liegen seine Begabungen?«
Breve trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »In der Jagd und der Tat.«
»Seine Stärken?«, fragte Redal-Stan.
»Sie liegen in der Treue zu seinen Überzeugungen.«
»Seine Schwächen?«
Breves Blick flackerte zur Seite. »Sein Stolz.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. »Gut gesprochen«, lobte Redal-Stan. »Wer spricht für Bewahrer Lodesh?«
Alissa bemühte sich aufzustehen. Connen-Neute bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, und trat einen Schritt vor. Doch es war Reeve, der kühn erklärte: »Ich spreche für ihn«, und Redal-Stans Augen weiteten sich.
»Er ist ein Gärtner«, flüsterte Earan zu laut. Connen-Neute warf ihm einen giftigen Blick zu, und Earans Ohren färbten sich rot.
»Was hast du diesen Mann gelehrt?«
Reeve setzte seinen Hut ab. Er hatte Schmutz unter den Fingernägeln und roch ein wenig nach Erde. Lodesh wusste, dass der gedrungene Mann neben ihm derb und einfach aussah, und Lodesh war stolz darauf, sein Sohn zu sein. »Die Freude an allen lebenden Dingen und die Kunst, sie zu hegen«, sagte Reeve laut und deutlich, und Earans höhnisches Grinsen wurde herablassend.
»Nach einem Endergebnis zu streben, das vielleicht erst die Kinder seiner Enkelkinder sehen werden«, führ Reeve fort. »Die Fähigkeit, die Worte der Menschen ebenso zu hören wie die Wahrheit dahinter …«
Earans Lächeln gefror.
»… und den Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis.«
Redal-Stan hielt seine Miene undurchdringlich. »Wo liegen seine Begabungen?«
»Darin, ein großes Problem zu erkennen, wenn es noch klein ist, und es sanft zurechtzustutzen, damit es einen besseren Weg nimmt.«
»Seine Stärken?«
»Seine Liebe zu seiner Stadt«, erklärte Reeve ernst.
»Seine Schwächen?«
Reeve zögerte. »Seine Liebe zu seiner Stadt.«
Einen Moment lang blitzte Überraschung in Redal-Stans Augen auf, dann nickte er. Der Meister bedeutete allen, wieder zurückzutreten. »Ich erachte beide Kandidaten als gleichermaßen würdig und überlasse die Entscheidung dem Volk, das sie tragen wird. Connen-Neute? Würdest du mir bitte helfen?«
Lodesh drehte sich um, als die Meister die hintere Zeltwand losbanden. Der Stoff sank herab und enthüllte ihm die Wiese. Sie war nicht leer, und Lodesh blieb der Mund offen stehen. Die gesamte Stadt musste hier versammelt sein. Als die Menge sie erblickte, steigerte sich das leise Gemurmel zu tosendem
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