Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
zurück!« Er rannte hinab, verlor sie aber auf der Treppe. Verzweifelt lief er hin und her. Sie war fort. Eine Hälfte von ihm war fort. Jemand brachte sie weg. Er musste sie zurückholen!
Er verbiss sich einen frustrierten Aufschrei, hielt den Atem an und zwang sich zur Ruhe. Er konnte sie nicht aufspüren, wenn seine Gedanken so durcheinanderwirbelten. Er blieb in der Mitte der großen Halle stehen und tat bewusst einen Atemzug nach dem anderen, immer langsamer, damit der winzige Punkt der Stille sich in ihm ausdehnen konnte. Sein Kopf tat weh, und er hieß den Schmerz willkommen, denn nun wusste er, dass der Schmerz damit zu tun hatte, ob er ihre Gegenwart fühlte oder nicht. Er schnappte nach Luft, als er spürte, wie Alissa durch ihn hindurchglitt und weiterging. »Warte!«, rief er und stolperte, als er sich hastig umdrehte. Blind folgte er ihr, bis er schließlich an die verriegelte und mit Bannen gesicherte Tür zu den Stallungen hämmerte. »Zurück«, keuchte er. Mit pochendem Herzen rannte er in die große Halle. Er stieß die inneren Türflügel des Haupteingangs so heftig auf, dass sie gegen die offen erstarrten Flügel der äußeren Tür krachten. Er musste hinaus, bevor das Flüstern von Alissas Gegenwart verklang.
Er rannte den überwucherten Pfad zum Wald entlang. Die dünnen Schuhe schützten seine Füße kaum vor den spitzen Steinen und Schlaglöchern. Er würde nichts tun als reagieren, denn er wusste, wenn er versuchte, das hier mit Vernunft anzugehen, würde die Logik ihm sagen, dass er sie unmöglich über die Zeit hinweg spüren konnte, und er würde sie verlieren.
Aber er konnte nicht mit ihr Schritt halten.
Taumelnd blieb er stehen und ließ den Kopf zwischen den Knien hängen. Sein Atem ging schwer und keuchend, seine Lunge schien bersten zu wollen. Sein Kopf hämmerte im Takt mit seinem rasenden Pulsschlag. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, doch das war ihm gleich. Alissa, seine Liebste, die Hälfte dessen, was sein Leben ausmachte, entschlüpfte ihm gerade.
– 11 –
H ilder hatte recht. Häppchen war freundlich. Das Pferd folgte Lodesh und Kally mit einem sanft schaukelnden Gang, der Alissa rasch entspannte. Ihre Hände am Zügel lockerten sich von einem todesängstlichen Krampf zu einem milden Klammern. Sie begann sich umzusehen und zu bemerken, wie wunderschön der Tag war. »Strell?«, rief sie atemlos und errötete dann. » Äh, Lodesh?«, verbesserte sie sich und hoffte, dass er sie nicht gehört hatte.
Lodesh zügelte sein Pferd, bis er neben ihr her ritt. Ehe sie sich daran erinnern konnte, was Hilder über das Anhalten gesagt hatte, verlangsamte Häppchen ebenfalls den Schritt. Kally ritt weiter, bis sie gerade so außer Hörweite war. Alissa fragte sich, wer hier eigentlich für wen die Anstandsdame spielte.
»Ist Strell jemand, der Euch etwas bedeutet? Jemand, den Ihr zurücklassen musstet, als Ihr zur Festung hingezogen wurdet?«, fragte Lodesh.
Verlegen krümmte Alissa sich zusammen. »So ähnlich.«
»Dann fasse ich Euren Versprecher als Kompliment auf«, sagte er. »Was möchtet Ihr denn wissen?«
»Wer ist Keribdis?«, fragte Alissa, die vermutete, dass Lodesh sich nicht für die seltsam geformte Eiche interessieren würde, die sie Strell hatte zeigen wollen.
Ein aufrichtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Sie ist Talo-Toecans häufig abwesende Gemahlin.«
Alissa dachte einen Moment lang darüber nach. »Warum besitzt sie ein Pferd, wenn sie es nicht reiten kann?«
»Ah, das ist eine interessante Geschichte.« Lodesh beugte sich vor und verscheuchte eine Fliege von Nachtschattens Ohr. »Jemand hat ihr einmal erzählt, auf einem guten Pferd sehr schnell zu reiten müsse ganz ähnlich sein wie Fliegen. Sie wollte wissen, ob das stimmt. Aber da kein Pferd ein Raubtier auf seinem Rücken duldet, konnte sie es nicht ausprobieren. Als Häppchen zur völlig falschen Jahreszeit geboren wurde, hat Keribdis sich des Fohlens angenommen. Sie hat ihm Milch aus einem Weinschlauch zu trinken gegeben und den ganzen Winter bei ihm im Stall geschlafen, weil Talo-Toecan ihr nicht erlauben wollte, das Pferd mit hinauf in die Feste zu bringen. Hat Hilder und die übrigen Pferde wahnsinnig gemacht. Dennoch duldete Häppchen Keribdis nicht auf ihrem Rücken. Streicheln und Tätscheln, ja. Aber jedes Gewicht, das schwerer war als ihre Hand, versetzte das Pferd in schieres Grauen. Deshalb musste sich Keribdis während der letzten
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