Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Takelage hörte. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als sie auch verstand, was der Wind war. Sie hatte Bestie nicht zerstört. Bestie hatte sich wieder vollkommen mit ihr verschmolzen. Sie waren eins. Wie sie es immer hätten sein sollen.
»Alissa? Du bist es doch, oder nicht?«, fragte Strell, und sie öffnete die Augen. Sein Gesicht wurde aschfahl. »Bei den Wölfen«, stieß er hervor und hob ihr Kinn an, so dass das Licht auf ihr Gesicht fiel. »Alissa. Deine Augen … Sie sind golden!«
– 41 –
L odesh stand auf dem taufeuchten Deck und hielt das Steuerrad mit sicherem Griff. Das Schiff war ganz in seiner Hand, denn Talo-Toecan war noch nicht zurückgekehrt, und der Kapitän schlief. Connen-Neute und Silla waren irgendwo über ihm im Nebel mit etwas beschäftigt, das der rotgesichtige Connen-Neute als »Flugübungen« bezeichnet hatte. Der Himmel weit über ihnen mochte klar sein, doch hier unten war es neblig. Lodesh fühlte sich unwohl in diesem dicken, klammernden Grau. Es erschien ihm beinahe wie eine Illustration dessen, was seit geraumer Zeit unter Deck vor sich ging.
Ein Stirnrunzeln, ungewöhnlich und alles andere als willkommen, verzog sein Gesicht. Lodesh hatte fast die ganze Nacht lang am Steuer gestanden, teils, weil das zu seinen Pflichten gehörte, teils aus persönlicher Vorliebe. Er wollte nicht unter Deck sein. Nicht heute Nacht. Vielleicht nie wieder. Es war ein ruhiger Abend gewesen. Strell war gleich wieder aus seiner Kabine gekommen, kurz nachdem er mit Alissa darin verschwunden war. Der Tiefländer hatte behauptet, er suche nach etwas zu essen. Schlimmer noch, ein paar Stunden später war er wieder herausgekommen, um noch mehr Essen zu holen. Dafür gab es viele mögliche Gründe, aber Lodesh hatte kein gutes Gefühl dabei.
Mit gerunzelten Brauen blickte er zu Strell hinüber, der mit dem Rücken zu ihm am Mast saß. Im Schlaf war ihm der Kopf auf die Brust gesunken. Er war erst vor wenigen Augenblicken an Deck erschienen, mit zerknittertem Nachthemd und wild abstehendem Haar. Er hatte geblinzelt, als hätte er noch nie Nebel gesehen. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, und Strell kochte Tee. Zumindest hatte er damit angefangen, einen Topf Wasser auf das kleine Feuer in der Kombüse gestellt, bevor er wieder herausgestolpert und eingeschlafen war, ehe das Wasser kochte. Nicht gut, dachte Lodesh.
Er rieb sich den Tau von den Bartstoppeln und warf einen hastigen Blick zur Luke der Kombüse. Jemand sollte den Topf vom Feuer holen, bevor er trocken kochte. Er könnte auch etwas Heißes zu trinken gebrauchen, um die Feuchtigkeit loszuwerden, die ihn klamm im Griff hatte. Wo, fragte er sich, war Hayden?
Ein Windstoß zerzauste ihm das Haar, und Lodesh blickte durch den sich lichtenden Nebel auf die ungeheuerliche Gestalt, die sich um den Mast krümmte. Talo-Toecan. Der Meister war zurück. Lodesh richtete das Steuerrad neu aus, als der Raku eine unmögliche Landung vollführte, durch die Luft wirbelte und breitbeinig und locker als Mann auf der Reling landete. Die Segel zuckten kaum.
»Lodesh«, sagte Talo-Toecan leise zur Begrüßung, und Lodesh nickte. Talo-Toecan tapste in Pantoffeln leise über das Deck und ließ sich auf der Bank neben Lodesh nieder. Ein Seufzen kam ihm über die Lippen, als er seine Meisterweste auf den Knien glattstrich. Er wirkte erschöpft, von mehr als nur Schlafmangel.
»Geht es Euch gut?«, fragte Lodesh vorsichtig. Er vermutete, dass der Meister Keribdis aufgesucht hatte.
Talo-Toecan riss den fragenden Blick von Strell los, der immer noch am Mast schlief, und verzog das Gesicht. »Nein«, sagte er knapp. »Ich will nicht darüber sprechen.«
Lodesh wurde steif vor Angst. Keribdis würde nicht zur Feste zurückkehren. Niemals. Er schloss die Augen bei der Vorstellung, was Talo-Toecan getan hatte – wozu er verpflichtet, wozu er gezwungen gewesen war. Aus tiefster Seele wusste Lodesh, dass er nicht die Kraft besäße, jemandem wehzutun, den er liebte. Nicht noch einmal. Einmal, auf den Mauern seiner Stadt, war genug gewesen. Sich einzureden, dass der Schmerz irgendwann von größerer Freude aufgesogen werden würde, war eine Lüge.
Ungebeten stand ihm plötzlich die Erinnerung an Kallys Gesicht vor Augen – wie sie zu ihm aufgeblickt hatte, erst tränenreich und flehentlich, dann im Wahn verzerrt, als sie ihre Kinder ermordete. Er hätte etwas unternehmen sollen. Er hätte sich ihrer erbarmen und sie töten sollen; darum hatte sie
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