Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
wir es in der Vergangenheit getan haben, ist falsch! Die Hälfte der menschlichen Bevölkerung zu töten, um sie unter Kontrolle zu bekommen, ist keine Führung. Das ist Mord!« Er brüllte jetzt und versuchte, sein Argument zu Ende zu bringen, doch seine Stimme wurde von dem Aufruhr übertönt, den seine Behauptung der Gleichheit von Menschen und Rakus hervorrief.
»Deine persönlichen Ansichten zu dieser Angelegenheit«, sagte Keribdis, deren spöttische Stimme schneidend durch den Lärm drang, »haben so große Aussichten wie ein Jungtier in einem Wirbelsturm.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, erwiderte er verbittert. »Du hast mich nie genug geliebt, um mir ein Kind zu schenken.«
Stille senkte sich über die Halle. Keribdis richtete sich zu voller Größe auf und funkelte ihn prachtvoll an. Füße scharrten, und Blicke wurden gesenkt, während die restliche Versammlung sich vor Verlegenheit wand, eine ihrer zahlreichen Ehestreitigkeiten so offen mitzuerleben.
Talo-Toecan ballte die Hände zu Fäusten. »Die Hälfte der menschlichen Bevölkerung umzubringen, damit du vormittags freihast, ist schlicht nicht akzeptabel, Keribdis. Wir sollten die Vermischung ihres genetischen Erbes fördern. Meister haben die menschliche Bevölkerung die letzten fünftausend Jahre lang manipuliert, und was ist geschehen? Unsere eigene Zahl ist auf vierundsechzig geschrumpft. Vierundsechzig!«, rief er vorwurfsvoll und wirbelte herum. »In den vergangenen dreihundert Jahren hat nur ein einziges Raku-Kind bis ins Erwachsenenalter überlebt, und selbst er ist verwildert! Sagt euch das denn gar nichts?«
Frustriert schloss er die versammelten Meister mit einer weit ausholenden Geste in sein Argument ein. »Sie sind wir! Seht euch nur einmal an. Es ist kein Zufall, dass ihre Gestalt die einzige ist, in die wir uns verwandeln und aus der wir uns auch wieder zurückverwandeln können. Warum fürchtet ihr sie?« Er schürzte stirnrunzelnd die Lippen. Er hatte mehr gesagt, als er hätte sagen dürfen.
Keribdis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Sie wandte sich um und ging gemessenen Schrittes zum Portal hinaus ins Sonnenlicht. Dabei hielt sie die Türflügel mit einem unauffälligen Bann geöffnet, so dass er gezwungen sein würde zuzusehen, wie sie ihre Raku-Gestalt annahm und sich golden schimmernd in den hellen Himmel erhob, eine Vision ungezähmter Anmut. Jemand hüstelte, und Talo-Toecan riss sich von dem Anblick los.
»Versammlung … vertagt?«, stammelte Ruen-Tag.
Wortlos wirbelte Talo-Toecan auf der Treppe herum und stieg zu ihren leeren Gemächern empor. Er würde ihr einen großzügigen Vorsprung lassen, schäumte er innerlich. Jetzt schon spürte er, wie sich diese Anspannung in ihm aufbaute, das unbezwingbare Begehren zu fliegen, zu jagen. Nichts sonst war mehr wichtig. Trotz all ihrer klugen Proteste war die Versammlung heute Keribdis vollkommen gleichgültig. Doch sie wusste, wie wichtig ihm die Sache war. All ihre höhnischen Worte hatten ihn nur dazu anstacheln sollen, sie zu jagen.
Und jagen würde er sie, wie er es immer tat. Er fand die Jagd genauso erregend wie sie, obgleich er sich dafür verachtete, wie leicht er ihren Listen erlag. Und während er jahrelang seine weiblichen Kolleginnen sanft zurückgewiesen hatte, wenn sie ihm ihre Gesellschaft anboten, klammerte er sich an die Hoffnung, dass Keribdis eines Tages in sich dieselben Gefühle entdecken würde, die er ihr entgegenbrachte.
Doch er wusste, dass er vergeblich wartete. Sie war zu sehr Bestie und zu wenig Meisterin.
– 5 –
A lissa saß im Schneidersitz in der westlichen Öffnung des Zwingers und brütete im warmen Sonnenschein vor sich hin. Die gewaltige Höhle unter der Feste war sehr schwer zugänglich, außer, man hatte Flügel. Der einzige andere Weg als durch die Luft war ein langer, enger Tunnel, in den man durch einen Wandschrank oben in der Feste gelangte. Die steinerne Falltür war derzeit mit einem Bann verschlossen. Sie wusste es; sie hatte nachgesehen.
Die Höhle mit ihren hohen Decken und mächtigen Säulen, verziert in der Schrift der Meister, wurde »Zwinger« genannt und war zeremonieller Raum und Kerker zugleich. Meister verwilderten, wenn sie die Verwandlung in eine neue Gestalt lernten, und hier im Zwinger hatte man sie sicher untergebracht, bis ihre Bewusstheit zurückkehrte oder man die Hoffnung darauf für immer aufgab. Bailic hatte ihn zu seinen Zwecken missbraucht, Nutzlos in die Falle gelockt und
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