Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
seine Taille. Er band ihn sich um den Kopf, so dass er seine Augen bedeckte. »Ich habe Verbrennungen erlitten«, sagte er leise. »Und ich bedecke die Verletzungen, damit niemand mein zerstörtes Gesicht und die entstellten Hände sehen muss.«
Nutzlos wandte sich seufzend ab. Alissa glaubte zu sehen, wie er ein erfreutes Lächeln verbarg.
»Ich werde die Binde immer tragen«, versprach Connen-Neute. »Auch an den Händen. Das wäre sicherer, als sie allein loszuschicken, mit einem Wandermusikanten und einem verfluchten Bewahrer. Wenn ich dabei bin, kann ich Euch rufen, sobald Alissa es geschafft hat, sich schwer zu verletzen.«
Verlegen gab Alissa ihm einen Klaps auf die Schulter.
Nutzlos stöhnte leise. »Also schön«, sagte er. »Du kannst gehen.«
»Was?«, rief sie aus. »Ich musste drei Tage lang betteln. Ich habe Eure Schuhe geputzt. Ich habe Euch kandierte Äpfel gemacht. Ich habe Euren Balkon gefegt. Und er darf einfach so mit?«
Nutzlos hüstelte, um ein Kichern zu verbergen. »Es stand nie in Frage, dass er mitgehen würde«, erwiderte er im Geiste, und der schmale Gedankenfaden sagte Alissa, dass nur sie ihn hören konnte. »Wie er ganz richtig sagte, muss dich jemand im Auge behalten. Aber er musste schon den Mut aufbringen, mich selbst darum zu bitten, sonst hätte er besser nicht gehen sollen.«
Alissa lächelte, denn auch sie erkannte, dass Connen-Neutes Selbstbewusstsein langsam, aber solide wuchs.
»Ich hoffe nur, dass er sein neues Selbstvertrauen nicht schlagartig verliert, wenn er Keribdis findet«, fügte Nutzlos säuerlich hinzu, und Alissa teilte seine Sorge. Keribdis war dazu ausgebildet, Bestie zu entdecken, und sie würde sich alle Mühe geben müssen, ihr zweites Bewusstsein verborgen zu halten.
»Geht und sagt es Lodesh und Strell«, befahl Nutzlos laut. »Sie können ihre Bündel durch den Tunnel herunterbringen. Ich habe bereits den Bann von der Falltür entfernt. Wenn wir Glück haben, wird Lodesh lieber zurückbleiben wollen, sobald er erfährt, dass er durch die Luft reisen soll.«
Alissa grinste. Lodesh hatte entsetzliche Angst vor dem Fliegen, doch sie war sicher, dass er es nicht riskieren würde, Strell allein mit ihr ziehen zu lassen. Bebend vor Aufregung hüpfte sie beinahe nach vorn zur Felskante, um sich zu verwandeln und es ihnen selbst zu sagen. Ihre Zehen hingen schon über dem tödlichen Abgrund, als sie zögerte. »Ihr lasst mich um die halbe Welt reisen, aber ich darf nicht ins Tiefland, um nach meiner Mutter zu suchen?«, fragte sie.
Die Belustigung auf Nutzlos’ Gesicht war im orangeroten Licht der untergehenden Sonne deutlich zu erkennen. »An Bord eines Schiffes wirst du weniger leicht in Schwierigkeiten geraten, als wenn ich dich wieder auf einen ganzen Kontinent loslasse.«
»Nutzlos …«, schmeichelte sie, und er kniff die Augen zusammen.
»Kein Wort mehr«, warnte er sie. »Sonst bleibst du hier bei mir.«
Sie schloss mit hörbarem Schnappen den Mund und starrte ihn an. Sie fand die ganze Situation ungeheuerlich ungerecht. Der Meister wurde allein von seinen egoistischen Wünschen getrieben – doch diesmal würde sie nichts dazu sagen.
»Dies ist eine Exkursion zur Förderung partnerschaftlicher Gefühle zwischen dir und Connen-Neute, soweit es mich betrifft«, fuhr er fort, und Alissa und Connen-Neute wechselten einen müden Blick. »Oder würdet ihr lieber Beeren pflücken –«
»Nein«, sagte Alissa hastig.
Nutzlos wandte sich fragend Connen-Neute zu.
Der große, ungelenke Meister zuckte zusammen. »Nein«, stimmte er etwas verspätet zu. Doch das gedämpfte Wort stand in krassem Gegensatz zu seiner freudigen Erregung, die sich ungebeten in ihren Geist schlich. »So ist es schon gut.«
– 6 –
D er Wind, der an ihr entlangglitt, war kühl, und sie bildete sich ein, das Salz in der Luft riechen zu können. Die Sonne war längst untergegangen. Sie flog dahin wie ein Gespenst, in Höhe und Dunkelheit vor den abergläubischen Küstenbewohnern verborgen. Ihr Zorn darüber, dass Nutzlos sie über das Meer fliegen ließ, um seine Angehörigen zu finden, sich jedoch weigerte, ihr zu erlauben, nach ihrer Mutter zu suchen, hatte sich zu einer vertrauten, stumpfen Gereiztheit abgeschwächt. Irgendwohin zu fliegen war besser, als auf der Feste zu hocken.
Ihre klauenartigen Hinterfüße umklammerten die Bündel. Sie waren in eine Plane eingewickelt, die an ihrem Wanderstab aus Euthymienholz hing. Alissa starrte angestrengt in die
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