Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
zurecht und wandte sich an die Versammlung. »Wir müssen die Kontrolle wiedererlangen, und sei es nur aus diesem einen Grund«, sagte er und warf Keribdis einen um Zustimmung heischenden Blick zu. Als sie ihn anlächelte, errötete er. »Ein Transformant muss sehr umsichtig und wohl überlegt gefördert werden«, fuhr er schleimerisch fort, »sonst wird er keinen Grund dafür sehen, unserem Rat zu folgen, wenn er erst einmal sein Potenzial als Meister verwirklicht hat. Transformanten müssen unter sorgfältigster Aufsicht nach der Überwachung in Frage kommender Familien über Generationen hinweg durch die Vereinigung ausgewählter Linien erschaffen werden. Nur so erhalten wir, was wir wollen. Man kann nicht zulassen, dass sie einfach so entstehen, wie ein Kürbis aus dem Komposthaufen vom vergangenen Jahr.«
»Feigling«, brummte Talo-Toecan. Sein umherschweifender Blick blieb an Redal-Stan hängen, der am anderen Ende der Halle an der Wand lehnte. Der alte Meister hielt sich die Hand vor Augen, während Talo-Toecan das ruinierte, was von seinem Ruf noch übrig war. Indem Talo-Toecan seine radikalen Überzeugungen so offen vertreten hatte, hatte er soeben seine ohnehin geringe Chance ruiniert, je einen Meisterschüler unterweisen zu dürfen. Das spielte kaum eine Rolle, sagte er sich trocken. Es hatte seit fast dreihundert Jahren keine Raku-Kinder mehr gegeben, die jemand hätte unterrichten können.
»Der nächste Transformant ist erst in ein paar Jahrhunderten geplant«, mischte sich jemand ein. »Wir vergeuden unsere Zeit. Die Frage lautet, wie wir die Kontrolle über die drei Allele wiedererlangen, die erforderlich ist, um überhaupt einen Transformanten hervorbringen zu können. Und die einfachste Möglichkeit, das zu erreichen, ist, das rezessive Küsten-Allel im Tiefland auszulöschen.«
»Nein«, erhob sich hitziger Protest. »Im Tiefland ist die Kontamination nur minimal. Das Hochland ist das Problem. Die fangen schon wieder an, sich über die Grenzen ihrer Population hinweg zu paaren. Es spielt keine Rolle, ob rezessive Küsten-Allele ins Tiefland oder ins Hochland vorgedrungen sind, solange wir die beiden nur daran hindern können, sich untereinander zu mischen.«
»Stellen wir die Feindseligkeit zwischen den Kulturen wieder her«, schlug eine kräftige Stimme vor. »Das ist einfach, es geht schnell, und vielleicht können wir dabei auch noch mit einem Streich einige dieser Küsten-Allele aus der Population entfernen. Eine Hungersnot zum Beispiel? Dazu dürfte es genügen, den Hauptstrom der Schneeschmelze drei Jahre in Folge umzuleiten.«
Talo-Toecan schloss die Augen und sammelte Kraft. Allele entfernen? Feindseligkeit wiederherstellen? Was sie damit eigentlich meinten, war, die Hälfte der menschlichen Weltbevölkerung umzubringen.
»Nein«, sagte Keribdis, und er riss die Augen auf. Sie hatte sich in einen Strahl der Morgensonne gestellt, der durch ein hohes Fenster hereinfiel. Sie wusste genau, dass ihr Haar sie in diesem Licht mit einem prachtvollen Schein umgeben würde und was das bei ihm anrichtete. »Wir sollten alle drei Populationen auf ein handhabbares Niveau reduzieren. Wenn sich der Staub gelegt hat, können wir die verbliebenen Linien aufzeichnen, kleinere Ausmerzungen vornehmen, wo es notwendig ist, und damit neu anfangen. Dann bekommen alle eine dringend benötigte Pause. Mein Ruhejahr steht in acht Jahren an, und ich freue mich keineswegs darauf, bis dahin so mit Schülern eingedeckt zu sein wie alle anderen.«
Talo-Toecan trennte sich entschlossen von den Gedanken, die Keribdis’ Anblick in ihm geweckt hatte. »Ihr versteht nicht«, flüsterte er und zupfte die schwarze Schärpe um seine Taille gerade. »Die Populationen zu begrenzen, ist keine mögliche Lösung mehr«, sagte er lauter. »Es ist zu spät. Die rezessiven Allele sind entwischt. Die Populationen mischen sich. Es sind zu viele Menschen, um erneut den ganzen Kontinent mit Seuchen oder Krieg zu überziehen. Das wäre unmenschlich.«
»Unmenschlich«, sagte Keribdis und warf den Kopf zurück. »Hör doch selbst, wie du sprichst. Sie leben nicht sehr lang – und sie vermehren sich wahrlich schnell genug. In ein paar Jahrhunderten werden wir wieder Bewahrer haben. Aber in einem verträglichen Maße.«
Talo-Toecans Atem beschleunigte sich vor Zorn. »Meine Sorge gilt nicht einem vorübergehenden Mangel an Bewahrern!«, rief er aus. »Bewahrer, Gemeine, ihr vergesst, dass wir alle eins sind! Sie so zu behandeln, wie
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