Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
sechzehn Jahre lang hier eingesperrt, während der feige Bewahrer nach einer sicheren Möglichkeit suchte, Tiefland und Hochland in einen Krieg zu stürzen. Es war Strell gewesen, der Nutzlos befreit hatte. Alissa kam hier herunter, wenn sie ihm aus dem Weg gehen wollte, denn die große Höhle machte den sonst so unerschütterlichen Meister nervös, obwohl er das gewaltige Gitter vor der westlichen Öffnung aus den Angeln gerissen hatte, sobald er in Freiheit war.
Schattig und ruhig war es, und kein Laut störte die Stille außer dem Wind und dem langsamen Tropfen von Wasser, das sich in der Zisterne hinter ihr sammelte. Alissa war selbst einmal einen Nachmittag lang hier gefangen gewesen. Damals hatte sie ihren Spitznamen für Nutzlos neben seinen richtigen Namen, Talo-Toecan, in die Mauer der Zisterne geritzt. Danach war sie hineingefallen und beinahe ertrunken. Alissa errötete bei der Erinnerung. Lodesh hatte sie herausgefischt. Doch da hatte sie ihn noch nicht richtig gekannt.
Sie war heruntergekommen, um in Ruhe zu schmollen, denn nur Nutzlos und Connen-Neute konnten sie hier erreichen. »Und du, Kralle«, sagte sie und streichelte den kleinen Vogel, der sanft an Alissas Fingern knabberte. Seufzend blickte sie über die gewaltige Klippe hinaus in Richtung der fernen See, die von hier aus allerdings nicht zu sehen war. Der Sonnenuntergang färbte die Wolken rosa, und sie hoben sich leuchtend vor dem tiefblauen Abendhimmel ab. Die Sonne hatte die Felswand den ganzen Nachmittag lang beschienen, bis sogar ihre menschlichen Augen den Aufwind als schimmerndes Zittern der Luft wahrnehmen konnten.
Sie hatte gepackt, dachte Alissa düster. Connen-Neute hatte gepackt. Strell hatte gepackt. Selbst Lodesh hatte es geschafft, seinen großen Haufen auf etwas zu reduzieren, das er tragen konnte. Doch Nutzlos blieb stur. Er hatte sich während der vergangenen zwei Tage in seinen Gemächern eingeschlossen, um allen aus dem Weg zu gehen.
Der Falke zwitscherte einen Willkommensgruß, als der Schatten großer Schwingen die zerklüfteten Überreste des westlichen Tors verdunkelte. Es war Nutzlos, und Alissa rutschte lustlos beiseite, um ihm Platz zum Landen zu schaffen. Ihr Haar wurde aufgewirbelt, als er vor ihr mit Rückwärtsschlägen seiner Flügel abbremste, geschickt durch die niedrige Öffnung glitt und landete. Sie spürte ein Zupfen an ihrem Geist, als er sich von einem Raku in seine menschliche Gestalt verwandelte.
Alissa ignorierte ihn. Die Knie unters Kinn gezogen, schlang sie die Arme um sich. Sie hatte nichts zu sagen, was er nicht schon gehört hätte.
Nutzlos rückte die schwarze Schärpe um seine Taille zurecht, bis deren Enden den Boden streiften. Stumm setzte er sich im Schneidersitz neben sie und beobachtete den Sonnenuntergang. Allmählich drängte sich das Tropfen des Wassers wieder in den Vordergrund. Alissa warf ihm aus den Augenwinkeln einen verstohlenen Blick zu und schaute rasch wieder weg. »Lasst mich losziehen und sie suchen, Nutzlos«, sagte sie. »Ich bin die Einzige, die sie finden kann.«
»Ich weiß«, erwiderte er knapp.
»Ich bin die Einzige, die Silla aus dieser Entfernung hören kann«, fügte sie hinzu.
»Da widerspreche ich dir nicht«, stimmte er zu, ohne nachzugeben.
»Ich wäre auch ganz vorsichtig. Ich würde mich an alle Eure Regeln halten«, flehte sie. »Ich werde mich über nichts beklagen.«
»Das«, sagte er trocken und wandte sich ihr zu, »wäre an sich schon ein Wunder.«
Frustriert rief Alissa aus: »Ich bin nicht Keribdis! Ich laufe nicht vor Euch davon!«
Seine Augen schlossen sich gegen die tief stehende Sonne, und er atmete tief durch. »Ich weiß.«
Sie stieß kläglich die Luft aus und sank wieder in sich zusammen. »Warum seid Ihr dann hier?«
Nutzlos öffnete die Augen. Lange schwieg er. »Du weißt, dass du die einzige Meisterin bist, die ich je unterrichtet habe?«, fragte er schließlich, und Alissa nickte. »Ich bin über achthundert Jahre alt – habe fünfhundert Jahre Lehrerfahrung – und durfte nie ein Raku-Kind als Schüler annehmen, nur Bewahrer. Anfangs haben sie behauptet, ich hätte zu viel zu tun oder zu viele andere Aufgaben. Später gab es keine Kinder mehr. Aber ich kannte den wahren Grund dafür schon immer: Sie haben befürchtet, dass ich meine starken Überzeugungen weitergeben und damit die Machtverhältnisse innerhalb der Feste verschieben könnte.«
Bei dem tieftraurigen Ausdruck seiner Augen blieben ihr die mitfühlenden Worte im
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