Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Nacht und sah vor sich Connen-Neute. Der junge Raku wirkte angestrengt, aber wohl eher aus Sorge, er könnte Lodesh fallen lassen, denn wegen des Gewichts des Bewahrers, der in einer Hinterhand baumelte, vermutete Alissa. Hinter ihr flog Nutzlos mit Strell. Alissa hatte merklich an Höhe verloren, und auf ihre sanfte Bitte hin schlug Bestie dreimal mit ihren Schwingen, so dass sie wieder auf Connen-Neutes Höhe stiegen.
»Lande jetzt, Connen-Neute«, drang Nutzlos’ Gedanke in ihren Geist, und Alissa zuckte zusammen. »Wir sind nah genug.«
»Es geht schon«, protestierte Alissa, deren Muskeln von den Schwingen bis hinab in den Schwanz vor Anstrengung schmerzten. »Nur noch ein Stückchen, dann schaffen wir es bis morgen Nachmittag an die Küste.«
»Weshalb wir jetzt hier landen«, erwiderte Nutzlos, und Connen-Neute drehte gehorsam in eine Abwärts-Spirale ab und verschwand zwischen den hohen Bäumen. Sie neigte sich ebenfalls nach unten und war froh, das schwarze, schimmernde Band eines Flusses einen Steinwurf weit von ihrem Landeplatz zu sehen. Während sie wartend in der Luft hing, verschwand Connen-Neute in wirbelndem Nebel und nahm seine kleinere, menschliche Gestalt an. Lodesh kauerte sich gegen den Wind von Alissas Flügelschlägen zusammen, und der junge Meister zog ihn beiseite, damit sie landen konnte.
Alissa ließ die Plane am Rand des Ovals aus plattgedrücktem Gras fallen und landete rasch. Der Wind ließ kein bisschen nach, sobald sie am Boden war. Wenn überhaupt, wurde er höchstens stärker. Sie blickte nach oben und sah Nutzlos mit Strell über sich in der Luft hängen. Sogleich nahm sie ihre gewohnte Gestalt an, um den Landeplatz für ihren Lehrmeister zu räumen.
Die Luft fühlte sich kälter an, als Alissa aus dem Nebel wieder erschien. Sie hielt sich das Haar aus dem Gesicht und beeilte sich, Redal-Stans Uhr zu finden und aus dem Weg zu gehen, ehe Nutzlos auf der Uhr oder auf ihr landete. Zweige, Blätter und Grasbüschel flogen durch die Luft, und ihr Haar wurde durcheinandergewirbelt. Sie schnappte nach Luft, als Strell neben ihr federnd auf Füßen und Händen landete. Er kniff die Augen gegen den Landesturm des Raku zusammen und zog sie am Ellbogen an den Rand des niedergedrückten Grases. Nutzlos jedoch landete einfach daneben und drückte noch mehr Wiese platt.
Plötzlich hörte der Wind auf. Dankbar richteten sich alle auf. Nutzlos, der sich nicht verwandelt hatte, hielt den Raku-Kopf hoch über die Wiese und suchte den nachtschwarzen Horizont ab, als rechne er mit Ärger. Alissa lächelte Strell zu und bückte sich dann, um nach ihrer Uhr zu suchen. »Hier«, sagte er, nahm ihre Hand und drückte ihr den Ring auf die Handfläche. Ihr Lächeln wurde herzlicher. Eines Tages würde sie das Ding doch noch verlieren.
Sie ließ es in eine Tasche gleiten und stellte fest, wie völlig anders sie die Nacht mit menschlichen Sinnen wahrnahm: Die Schatten waren dunkler, das Summen der Insekten lauter, und das ferne Donnergrollen einer Gewitterfront, die sie erst morgen erreichen würde, war verstummt. Sogar das Gras war höher, als sie erwartet hatte – dort, wo es nicht niedergedrückt war, wiegte es sich über ihrem Kopf. Sie spähte in die Dunkelheit und hielt Ausschau nach Kralle. Der kleine Vogel hatte nicht mithalten können. Doch Alissa machte sich keine Sorgen. Kralle hatte sie schon unter schwierigeren Umständen gefunden.
Mit einem Zupfen an ihren Pfaden nahm Nutzlos seine menschliche Gestalt an. Ein weiteres Zupfen – das sich als beständiger, leichter Zug länger hielt –, und eine kopfgroße Lichtkugel erschien. Nutzlos nahm davor Platz wie an einem Lagerfeuer. Die Hände in den weiten Ärmeln verborgen, musterte er ihre Kleidung mit einem unzufriedenen Blick. Er war nicht damit einverstanden, dass sie in ihren praktischeren, einfacheren Bewahrer-Gewändern erschienen war, statt sich beim Verwandeln in die eleganteren Meistersachen zu hüllen, die sie ebenfalls hervorbringen konnte.
»Ich mache mich jetzt auf den Rückweg zur Feste«, sagte er und warf ihr einen letzten säuerlichen Blick zu. »Ich habe nicht die Absicht, nach Mücken zu schlagen und auf dem Boden zu schlafen, wenn mein Bett nur einen kurzen Flug entfernt auf mich wartet.«
Alissa stockte der Atem. Er wollte sie jetzt schon verlassen? Sie hatte geglaubt, sie hätten noch die ganze Nacht lang Zeit, sich zu verabschieden. »Äh, Nutzlos?«, begann sie und fand es schrecklich, wie hell ihre Stimme bei der
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