Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
würde, ohne Schuhe aufzuwachen. Connen-Neute stand mit einer sanft schimmernden Lichtkugel in der Tür. Bestie starrte ihn mit großen, hellwachen Augen an, die Lodesh Sorgen bereiteten. »Bleib hier«, sagte er. »Alissa würde wollen, dass du hierbleibst. In Ordnung?«
Bestie schob ihre Decke beiseite und rieb sich mit der Hand die Nase. Ihr Blick verschleierte sich wieder, und er trat einen Schritt zurück, weil er plötzlich das Gefühl hatte, wenn er nicht aufpasste, könnte er ihren verwirrten Zustand ausnutzen, obwohl er das gar nicht wollte.
»Gehen wir«, sagte Connen-Neute nervös. »Sie sollten unser Fehlen lieber nicht bemerken.«
Lodesh nickte. Er warf Bestie noch einen strengen Blick zu, ehe er Connen-Neute nach draußen folgte.
Der junge Meister ließ das Tuch, das als Tür diente, vor den Eingang fallen und stieß ein langes, erleichtertes Seufzen aus. »Ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie das tut«, bemerkte Connen-Neute, während sie durch den losen Sand zum Pfad stapften.
»Mir macht das nichts aus«, gestand Lodesh. Er warf einen Blick zurück und überlegte, ob er nicht besser bleiben sollte, um dafür zu sorgen, dass sie nicht aufstand und zu der Musik zurückkehrte. »Ich mag es«, fügte er leise hinzu.
Connen-Neute runzelte die Stirn, und im Schein der Lichtkugel in seiner Hand sah sein Gesicht noch länglicher aus als gewöhnlich. »Du hast nie den Himmel mit ihr geteilt. Bestie kann man nicht zähmen, und man kann sie auch nicht mit Charme bezaubern. Sie ist wild. Sie hat keine Ahnung, was für Gefühle sie in dir hervorruft. Sie würde dich in Fetzen reißen, wenn du die leisesten Anstalten machtest, ihre Einladung anzunehmen, obwohl alles auf das Gegenteil hinweist.«
Lodesh sah ihn von der Seite an. »Ihr macht wohl Witze. Wie kann sie nicht wissen, was sie ausstrahlt?«
Der junge Meister erschauerte. »Wenn sie wüsste, was ihre Körpersprache ausdrückt, würde sie erst recht kampflustig werden. Wilde Bestien lassen nicht zu, dass man sie zu Boden bringt. Deshalb wird die Welt auch nicht von wilden Rakus überrannt«, nuschelte er.
»Oh …« Lodesh runzelte die Stirn und schwieg während des restlichen Rückwegs. Es musste eine Möglichkeit geben, das bei seinem Werben um Alissa zu seinem Vorteil zu nutzen. Er wusste es. Er musste nur noch dahinterkommen, wie.
– 21 –
S trell rannte den dunklen Pfad entlang, den Lodesh, Connen-Neute und Alissa genommen hatten. Zu seinem Glück war der Weg eben, sonst hätte er sich vermutlich den Knöchel verstaucht. Seine Schritte hämmerten bis hinauf in seinen Kopf, und seine Knie waren steif, weil er zu lange in derselben Haltung gesessen hatte. Er würde nicht darum herumkommen, neue Regeln über Musik einzuführen, denn sonst würden sie ihn jede Nacht so lange spielen lassen.
Es hatte ihn sehr erstaunt, dass die Meister die Wölfe des Navigators noch hingebungsvoller wachhalten konnten als ein Vater von sechs Töchtern auf der Hochzeitsfeier seiner Jüngsten. Doch im Nachhinein erschien es ihm nicht mehr so seltsam. Die meisten von ihnen gingen auf ihr achtes Jahrhundert zu. Was hatten sie sonst schon zu tun?
Die Versuchung, sie nicht zu unterhalten, war stark gewesen. Doch er hatte seinen Zorn hinuntergeschluckt, weil er erkannt hatte, dass er mit seiner Musik mehr bewirken konnte als auf jede andere Weise. Er hatte ein paar Bitten um bestimmte Lieder erfüllt, doch seine Themen waren Vergebung und Toleranz gewesen. Er hatte sich unter dem Vorwand entschuldigt, er müsse sich die Beine vertreten, doch seine schmerzenden Knie waren das Letzte, woran er dachte. Irgendetwas stimmte nicht mit Alissa. Nur die Angst in Connen-Neutes Augen, als er und Lodesh sie weggeführt hatten, hatte Strell dazu gebracht, den Mund zu halten und die anderen weiter mit seiner Musik abzulenken, bis die drei sicher außer Sicht waren.
Ein Licht auf dem Pfad ließ Strell langsamer werden. »Alissa?«, rief er atemlos.
Das Licht zögerte und kam dann weiter auf ihn zu. »Wir sind es, Strell«, hörte er Lodeshs Stimme rufen.
Ärger kroch in Strell hoch. Lodesh. Der charismatische Mann reizte Strell in letzter Zeit noch mehr als gewöhnlich. Er ging rasch weiter, rannte aber nicht mehr, denn seine Knie taten weh. Strell erkannte Connen-Neutes schattenhafte Gestalt neben Lodesh, doch Alissa war nicht bei ihnen. Sie waren stehen geblieben und warteten auf ihn. Connen-Neutes langes Gesicht wirkte im Schein seiner trüben Lichtkugel
Weitere Kostenlose Bücher