Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
zum Morgenschimmer des nächsten Tages überlegten die beiden, wie sie dem Drachen entkommen konnten. In aller Heimlichkeit setzten sie einen Brief auf, gerichtet an den Ersten Legaten des Papstes, den Zisterzienser Gui. Sie kannten diesen Mönch von Montpellier her. Er war gekommen, als sämtliche Nonnen eines bestimmten Klosters den Katharismus angenommen hatten, ohne ihr Ordenshaus oder ihre Ordensübungen aufzugeben. Bruder Gui war längere Zeit in Montpellier geblieben, um gemeinsam mit Wilhelm gegen die Ketzer vorzugehen und ein Provinzial-Konzil vorzubereiten.
Nun stellte sich einzig die Frage, wer diesen Brief weiterleiten würde. Sie mussten jemanden finden, der ihnen entweder wohlgesonnen war - oder bestechlich. Estrella, die sich im Palast des Erzbischofs frei bewegen konnte, aber nur dort, war bereit, eines oder auch mehrere der Goldstücke, die sie in Montpellier in ihre Röcke eingenäht hatte, dafür zu opfern, und sich auf die Suche nach einer solchen Person zu machen.
9.
Irgendetwas stimmte nicht. Wie immer hatte der Trencavel an der Seite seiner Ritter zunächst das Halbrund der Ostbarbakane, dann die Holzbrücke über den Graben überquert, um im Anschluss daran das Tor zum Palatium zu passieren. Doch dort war bei bereits hochstehender Sonne und obwohl sie Otho von Mirepoix als Herold vorausgeschickt hatten, noch immer das erste Fallgitter heruntergelassen. Auf dem Weg durch die Stadt hatte nichts darauf hingedeutet, dass etwas vorgefallen sein könnte, was diese Vorsichtsmaßnahme rechtfertigte. Die Wachleute vor dem Narbonner Tor hatten den Vizegrafen mit gewohnter Ehrerbietung begrüßt; in den Straßen und Gassen Carcassonnes, durch die sie geritten waren, war es zwar ruhiger als sonst zugegangen, doch hatten viele Menschen gewunken und vivat gerufen.
„Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst“, spottete der Trencavel, sich des Psalmbeters erinnernd, doch seine Stimme klang verärgert.
Die Pferde der Ritter trappelten unruhig hin und her. „Verdammt, Otho müsste doch längst eingetroffen sein“, rief Peter von Cabaret. „Warum hat er uns nicht angekündigt? Ich lasse ihn teeren und federn!“
Erst als sie laut um Einlass riefen, wurde unter großem Lärm das Porte colant hochgezogen. Der Tross ritt zu den Ställen, den Werkstätten und Gesindeunterkünften. Dort schien alles in Ordnung zu sein. Die Knechte sprangen herbei, um die Pferde in Empfang zu nehmen; die Jagdhunde winselten aufgeregt aus ihrem Zwinger heraus, der Schmied, ein Hüne von Mann, trat ein Stück näher, verbeugte sich tief und hämmerte bald munter weiter, dass die Funken stoben. Auch aus der ihm benachbarten Zimmerwerkstatt drangen Säge- und Hobelgeräusche.
Dennoch spürten es die Ritter genau: Etwas war anders als sonst: Weder Otho von Mirepoix, noch der Oheim des Trencavels oder irgendwelche Vögte und Höflinge standen bereit, um ihren Herrn zu begrüßen. Ja, selbst Villaine, der Spielmann, ließ sich nicht blicken. Am Abend vor ihrer Abreise nach Montpellier hatte ihn der Trencavel - wenn auch gegen den Rat seines Oheims - zum menestrel de cour gemacht und ihm das kleine Lehen Dérouca außerhalb der Stadt anvertraut, was bedeutete, dass Villaine fortan bei Hofe fest angestellt war und obendrein über eigene Einkünfte verfügte. Er hätte es sich nicht nehmen lassen, seinen Herrn zu begrüßen. Was war geschehen?
Als Inés` Begleiterin, die junge Fabrisse, der zukünftigen Herrin von Carcassonne aus der Sänfte half, kam der Kämmerer Aaron um die Ecke geeilt. Nun war es wahrlich nichts Besonderes, den hageren Mann mit der dunklen Robe und dem schwarzen Samtbarett auf den Silberhaaren, über die Höfe laufen zu sehen, aber der Vizegraf sah ihm sofort an, dass etwas passiert war.
„Sénher, entschuldigt die Nachlässigkeit“, rief der Jude schon von weitem. Er keuchte. Ein paar Schritte vor den Ankömmlingen blieb er abrupt stehen und stieß mit bitterer Stimme hervor: „Die Miselsucht ist ausgebrochen in der Stadt!“
Der Trencavel trat auf den Juden zu. Sein untrügliches Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hatte ihn nicht getäuscht. „Was sagt Ihr da, Meister Aaron!“
„Bereits kurz nach Eurer Abreise, Sénher, gingen Gerüchte um, dass eine Frau aus Castellar den Aussatz hätte. Tatsächlich traten noch drei weitere Fälle dort auf. Und nun sind zwei unserer Küchenjungen erkrankt. Die Ärzte, der Bischof und der Bader haben die Krankheit bereits
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