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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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geworden wäre. Doch er war fest entschlossen, sich an nichts mehr zu erinnern. Das vermoort, das vermoort.
    Aber in der Trennung lag die Ahnung, daß da mehr gewesen sein mußte als eine Drehung des amourösen Reigens blutjunger Nervenbündel. Leda schrieb Aljoscha, sie wisse jetzt, was er ihr war, jetzt, da es zu spät sei, werde es ihr endlich klar. Ihre Worte hätten jeden Stein erweicht, doch Aljoscha teilte ihr in seinem Antwortbrief sinngemäß mit, sie möge mit Yuri Pferde züchten gehen, womit er ziemlich genau das Gegenteil meinte, nämlich, daß alle Pferde züchten gehen sollten außer Leda und ihm selbst, aber voller Trotz gegen sich selbst warf er sich in die Arme eines Mädchens namens Nikolenka, bestrebt, in seinem Kopf die Lichter auszumachen, jung und ahnungslos wie alle, aber keinen Unterschied zugebend zwischen zerstörter Vollendung und vollendeter Zerstörung. Wochen später jedoch, als er sich erneut mit Anton und Yuri auf Reisen befand, hatte Aljoscha vor sich selbst die Tatsache zu rechtfertigen, daß er einen Brief an Nikolenka geschrieben hatte und fünf an Leda.
    Er war ein Idiot. Er rang nieder, was in ihm niederzuringen war. Und kehrte zurück.
    Er schob ein Meer vor Ledas Füße. Sie stand an einem Ufer. Als Hafengöttin eines Seemannslebens.
    Zwei Tage nach der Rückkehr der Katzenmenschenfrau, am 5. Oktober, beendete Aljoscha die Arbeit an seinem philosophischen Traktat durch eine Art geistigen Gewaltmarsch. Wie sagt Majakowski in Gute Behandlung der Pferde: „Jeder von uns ist auf seine Art Pferd.“ Zuweilen schloß er die Augen und stellte sich vor, daß die süchtige Königin, bleich wie ein Geist, mit fiebriger Erwartung auf das Zeug blickte, das er da zusammenbraute. Schließlich setzte er den letzten Punkt. Seine Arbeit war getan, und vielleicht hatte er sie gut getan. Aber es war niemand da, der sich darüber freute. Leda lag krank im Bett. Gestern hatte er sie besucht und Diagnosen gestellt wie ein Doktor, der sich beim Abhören im Schlauch des Stethoskops verheddert. „Patientin lacht unmotiviert, hm, hm – hoppla…“ Aber Ledas Lachen war nur Reflex ihrer Angegriffenheit und alles andere als unbeschwert. Mehr oder weniger nur ein getarntes Seufzen.
    „Was machst du denn den ganzen Tag?“
    „Nichts, wovon du sagen würdest, es hätte einen Sinn.“
    „Ach, Aljoscha, so denkst du von mir? Wie dumm du bist… und nachts, was machst du nachts?“
    „Dehnübungen… Streckübungen… was man eben so macht.“
    „Bloß nicht schlafen, was?“
    „Weißt du, was ich bemerkt habe? Es gibt Nächte, in denen das Gedächtnis fast verhungert. Es will sich an irgendwas erinnern, aber es fragt sich, ob da überhaupt etwas gewesen ist… und dann setzt sich das Gedächtnis aus Verzweiflung etwas Erinnerbares zusammen, so wie man sich aus Gemüseresten eine Suppe kocht.“
    „Und heute wird wieder so eine Nacht sein? Mit schaler Suppe?“
    „Aber nein, heute nicht.“
    „Es war so schönes Wetter heute… wir hätten im Park spazierengehen können…“
    Sie hatte es so traurig gesagt, als würde man nie wieder im Park spazierengehen können, aber Spazierengehen war für Leda ein so essentielles Bedürfnis wie die Photosynthese für chlorophyllhaltige Organismen oder der Glockenschlag von Big Ben für einen Londoner. Aljoscha hätte die Last, die auf ihr lag, mit Händen greifen können, aber etwas verweigerte den Zugriff – vielleicht seine Hände, vielleicht ihre Last.
    „Vorhin habe ich überlegt, wann wir uns zuletzt geliebt haben… ich mußte überlegen, ist das nicht schrecklich?“
    „Nicht sehr.“
    „Nicht ?“
    „Partielle Amnesie, gar kein Grund zur Sorge. Wir Gehirnspezialisten nennen das… wie nannten wir das doch gleich…“
    „Ich weiß genau, es ist schon viel zu lange her… ach, immer dieses Verzichten und Vertagen und Vertändeln! Immer fürchte ich, etwas nicht richtig zu tun, und dann tue ich es gar nicht! Eine abscheuliche Freundin hast du! Vielleicht brauchst du eine andere!“
    „Verdammt! Es sind die gefährlichen Papperlapapp-Viren!“
    Aljoscha steckte seine Arbeit in einen Briefumschlag; dann nahm er sein Fahrrad und fuhr, Kopfhörer auf den Ohren, in das Universitätsviertel, um sich einen Spätfilm anzusehen. Er fand genau den richtigen. Einer dieser Filme, die anfangen, weitergehen und sich dann doch dem Ende nähern.
    CRY FOR LOVE TILL ALL THE PLATES ARE BROKEN
    Als Aljoscha dann zurückfuhr durch menschenleere Straßen, dachte

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