All unsere Traeume - Roman
Schraubenzieher und einen Inbusschlüssel. Sie ging nach oben, wohin die Musik durch die Dielenbretter und die Wände des alten Hauses gedämpft, aber gut vernehmlich drang.
Max hatte sie gebraucht. Und das war großartig gewesen, ein kleines Wunder, bestehend aus Geben und Zuhören. Er hatte sie, wenigstens für eine kurze Zeit, als eine Art Mutter betrachtet. Doch jetzt hatte er die verdiente Anerkennung erhalten. Sein Vater hatte ihm endlich zugehört. Max brauchte sie nicht mehr. Sie würde immer noch seine Freundin sein, immer noch seine ehemalige Lehrerin, doch das Mutter-Thema gehörte ihr nicht. Sie hatte es sich nur ausgeliehen.
Und das war in Ordnung so. Es war der natürliche Lauf der Dinge. Es gab viele Arten, gebraucht zu werden. Es gab andere Lebensentwürfe als den, den sie sich für sich selbst ausgemalt hatte.
Sie brauchte bis fast drei Uhr morgens, um das Kinderbett, die Kommode und den Wickeltisch auseinanderzubauen. Um die Vorhänge abzunehmen, das Mobile. Um die Decken und die Anziehsachen zu falten und den Läufer einzurollen. Mitten in der Nacht und bei geöffneter Haustür, sodass sie immer noch die Brandenburgischen Konzerte hören konnte, brachte sie jedes einzelne Teil ins Auto. Bis auf den Fahrersitz war das Auto bald komplett voll, aber auf diese Weise zusammengedrängt, schien das alles doch auch irgendwie zu schrumpfen.
Und dann ging sie zu ihrem Bett, legte sich hin und schlief tief und fest, bis die Sonne sie weckte.
Die Antwort
E r fragte sie, ob sie ihn wollte. Und dann sah er sie an, sah ihr tief in die Augen.
In ihren Träumen hatten sie sich nicht hier im Wohnzimmer ihrer winzigen Wohnung mit dem windschiefen Weihnachtsbaum befunden. Sie standen vielleicht auf irgendeiner Sommerwiese. Oder auf dem Gipfel eines Berges. Es war immer in einem Paralleluniversum, in dem Claire nicht existierte oder in dem er ihr nie begegnet war. In dem sie beide seit geraumer Zeit Freunde waren, bis er sich ihr eines Tages zuwandte, auf einer Wiese oder auf dem Berg oder vielleicht auch bloß in der Studentenkneipe, und sie genau so ansah. Tief in die Augen.
Sie konnte seinen Kuss schmecken. Sie hatte ihn eine Million Mal in ihrer Vorstellung geschmeckt, immer mit einem schlechten Gewissen. Sie wusste, wie er sich in ihren Armen anfühlen würde, sein großer, starker Körper. Sie kannte ihn als guten Vater, als treuen Freund, als Träumer und als Optimisten, als einen Mann, dessen Lächeln und Willenskraft alles bewerkstelligen konnten. Als den Mann, den ihre Tochter als Elternteil wollte.
Elf Jahre lang hatte sie ihn geliebt. Elf Jahre, die nicht nur in Sehnsucht und verpassten Gelegenheiten resultieren konnten. Und nun hatte er sie gefragt, ob sie ihn wollte.
Und nun hielt er den Atem an und wartete auf ihre Antwort. Wartete darauf zu hören, was sie fühlte.
Warum zählen die Gefühle von allen anderen, bloß deine nicht, Rom? , hatte er gefragt.
In ihren Träumen hatte er sich immer für sie entschieden.
»Nein«, sagte sie.
Er atmete aus. Sie wusste, dass sie sich seine Erleichterung nicht nur einbildete.
Jetzt
N un, da Claire ihre Entscheidung getroffen hatte, wollte sie es so schnell wie möglich über die Bühne bringen, doch Romilys Wohnung lag im Stadtzentrum, gleich um die Ecke von Berkshires größtem Einkaufszentrum, und es war das letzte Wochenende vor Weihnachten. Eigentlich hatte sie im Morgengrauen aufstehen wollen, hatte aber verschlafen, und jetzt setzten die Staukolonnen am Stadtrand ein und verstopften jede Straße, die in Rich tung der Parkplätze führte. Sie saß in ihrem Wagen, der randvoll war, und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Dank des vertrackten Systems aus Einbahnstraßen in Brickham konnte sie es sich noch nicht einmal anders überlegen und umkehren. Ein grauer, eisiger Regen ging hernieder, und die Weihnachtsdekorationen der Stadt, die von jedem Gebäude leuchteten, wirkten traurig und wie fehl am Platz.
Sie kroch an dem Haus vorbei, in dem Ben wohnte. Der Verkehr war so langsam, dass sie Zeit hatte, sich sämtliche Fenster anzusehen und sich zu fragen, welche Wohnung wohl seine war. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn dort zu besuchen. Doch irgendwann würden sie miteinander reden müssen. Vielleicht wäre ein neutraler Ort das Beste.
Gab es irgendwelche neutralen Orte auf der Welt? Fortan würde alles in ihren Gedanken definiert sein als ein Ort, an dem sie vor ihrer Trennung von Ben gewesen war oder aber hinterher. Sie hatte sich so
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