Allan - Die Suche nach dem Ich (Band 2) (German Edition)
nicht. Umso erstaunter würde er sein, wenn er nachhause käme und Vater war. Plötzlich setzten die Schmerzen wieder ein. Sie blickte die Hebamme panisch an.
»Ist zwar ungewöhnlich, doch das wird die Nachgeburt sein«, erklärte sie.
Nun gut. Noch einmal die Zähne zusammenbeißen, dann hätte sie es geschafft. Aber was hatte sie damit gemeint, dass es ungewöhnlich war? Um darüber nachzudenken, blieb ihr keine Zeit. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen.
»Oh, mein Gott«, hörte sie auf einmal die Wehmutter sagen.
»Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
»Es war nicht die Nachgeburt. Es ist ...«
»Was? Was?« Sie sollte ihr endlich sagen, was passiert war.
»Du hast Zwillinge.« Sie kam mit einem zweiten Jungen vor dem Tuch auf ihrem Unterkörper zum Vorschein. Sie wickelte es ebenso in ein Leinentuch, wie sie es schon beim Erstgeborenen getan hatte, und legte es der verwirrten Mutter auf die Brust.
»Zwillinge? Aber wie ist das möglich? Ich dachte, die Götter würden alle Zwillingsschwangerschaften auf Anhieb töten?«
»Das habe ich auch geglaubt. Bis heute.«
Die Götter ihrer Welt waren schon immer paranoid gewesen. Sie lebten in dem Glauben, dass Mehrlingsgeburten etwas Böses mit sich bringen würden. Eines der Kinder würde stets etwas Abtrünniges in sich tragen. Aus diesem Grund beseitigten sie Mehrlingsschwangerschaften, noch bevor sie ans Tageslicht kamen. Doch bei Olya war irgendetwas schiefgegangen. Panik breitete sich in ihr aus. So sehr sie ihre Kinder lieben würde, so sehr fürchtete sie auch den Zorn der Götter.
»Bring´ ihn in die Scheune!«
Sie reichte ihrer Hebamme den Zweitgeborenen, der daraufhin in den Schober gebracht wurde. Sie ahnte, dass die Götter es herausfinden würden, doch wusste sie im Moment einfach nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Sie würde sich mit ihrem Mann beraten, sobald er zurückgekehrt war.
Am nächsten Morgen war die Familie endlich vollständig. Peydan, Olya und Allan - so hatten sie ihren Sohn genannt - saßen auf dem Bett und genossen die traute Dreisamkeit. Doch Olya wusste, dass sie ihrem Mann reinen Wein einschenken musste.
»Ich muss dir etwas sagen, mein Liebling. Und darüber wirst du nicht begeistert sein.«
»Was auch immer es ist, meine Liebe ... Nichts wird diesen Glücksmoment zerstören.«
Sie begann zu erzählen und sah, wie sich die Miene ihres Mannes stetig verdüsterte.
»Er ist in der Scheune? Was meinst du, wie lange wir es vor den Göttern geheim halten können?«
»Wir müssen es versuchen, Peydan.«
»Liebling, wir werden in der Hölle landen - und das ist noch die mildeste Strafe, die sie uns zukommen lassen würden.«
»Aber wir können uns doch nicht so einfach von einem der Jungen trennen. Sie sind unsere Kinder.«
»Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus. Sie blickte aus dem Fenster - er ging nicht zur Scheune, sondern in den Wald. Vermutlich wollte er beim Holzhacken einen klaren Kopf bekommen.
Peydan hatte sich zum Wohl seiner Zwillinge entschieden. Nalla - so hatten sie den zweiten Jungen genannt; es bedeutete Allan rückwärts, was Glück bringen sollte - lebte von Geburt an in der Scheune. Sie hielten ihn dort versteckt. Kein schönes Leben, doch immerhin konnte er leben. Olya ging mehrmals am Tag zu ihm, um ihn zu füttern. Am Abend kam sie mit ihrem Mann zu ihm und brachten ihn zu Bett - ein Heubett war das einzige Möbelstück, das sich hier befand.
Fünf Jahre lang konnten sie ihn versteckt halten. Unterschiedlicher hätten die Brüder nicht sein können. Allan war ein aufgeweckter, lebensfroher Junge, aber Nalla ... Er war ein Eigenbrötler mit einer unheimlichen Ausstrahlung. Vielleicht hatten die Götter doch recht. Vielleicht war einer der Zwillinge stets böse. Oder das Leben in der Scheune hatte ihn zu dem gemacht, was er nun war. Olya und Peydan wussten es nicht, jedoch liebten sie ihn nicht weniger als Allan. Allerdings bekam Olya immer mehr das Gefühl, dass ihr ruhiges Leben im Wald je gestört werden würde.
Sie sollte recht behalten, denn im Himmelreich hatten die Götter schon längst diese Schandtat aufgedeckt. Nun überlegten sie, wie sie die Familie bestrafen könnten. Ihnen sollte das Schlimmste wiederfahren: Sie würden ihnen einen ihrer Söhne entziehen.
In einer kalten Winternacht stiegen die Götter in den Moderwald hinab. Sie wussten, dass sich hier Zwillinge aufhielten, doch ahnten sie nichts von dem Versteck. Also
Weitere Kostenlose Bücher