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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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nicht fortfahren.

30. Januar
    Auf dem Heimweg. Anflug auf den Flughafen London Heathrow.
    Gestern abend beim Abschiedsessen: Ellen, eine 27 jährige Leipzigerin, gerade Lektorin in Newcastle, erzählt: Die erste Erdnuß habe ich mit Schale in den Mund gesteckt; Franzi, etwas jünger, ebenfalls aus dem deutschen Osten, sagt: und dann, nach der Wende, war Messe in Leipzig, es gab einen Stand mit Austern. Ich habe meinen Vater angebettelt, unbedingt wollte ich eine Auster essen. Der Westen, das waren für mich Austern. Mein Vater hat mir eine gekauft. Eine, wißt ihr! Und ich habe sie sofort ausspucken müssen. Ich habe nur gespuckt. Franzi lacht. Ich lache auch und denke: da bin ich in Newcastle und höre Geschichten aus der DDR, einem verschwundenen Land, das nun am Tyne auftaucht, mit Austern. Und meine Oma, erzählt Franzi weiter, hat einmal ein Westpaket bekommen und sich dann bei anderen Verwandten im Westen beschwert. Sie fände es nicht korrekt, daß man ihr eine alte Zitrone geschickt hätte. Eine Zitrone, die schon ganz braun gewesen sei und pelzig! Die Verwandten im Westen schwiegen. Erst nach der Wende haben wir begriffen, daß die Oma damals eine Kiwi bekommen hat.
    Der besondere Geruch der Westpakete, sagte Ellen. Franzi nickt, Westdeutschland, das war ein exotisches Land.

     
    Heute Morgen, als ich aufwachte, lag Schnee in den Straßen von Newcastle. Alles weiß. Die kahlen Bäume vor Henrikes Fenster waren voller Schnee, der Rasen. Ein kleiner Glücksschock. Ich bekomme Schnee zum Abschied, denke ich, und auf die Reise. Henrike nimmt das Fahrrad und begleitet mich zur U-Bahn: wie die Geräusche sich samtig ändern, wenn Schnee liegt, selbst in einer Stadt. Dann fährt sie mit zum Flughafen. Vor der Sicherheitskontrolle drückt sie mir einen Memorystick in die Hand. Schubert, Deutsche Messe. Die Musik sei eigentlich zu schön, sagt sie und schüttelt den Kopf, auf einmal ganz Professorin und so, als sei diese Geste für sie zu weich.
     
    London Heathrow, »Multi-faith room«. Ich sehe, wie nacheinander arabisch aussehende Männer in den Neonjacken der Flughafensecurity in den Vorraum gehen. Dort ziehen sie ihre Schuhe aus. Christen würden vor dem Beten nicht die Schuhe ausziehen. Einen Multi-faith room kann es nur geben für einen Mehrzweckglauben. Aber der bräuchte keinen besonderen Raum.
     
    Ich setze mich vor die Abflugtafel.
     
    »Was ich immer erzählen muß, immer sagen muß: daß ich keine Heimat habe, daß ich ein Fremder bin, und das meine ich nicht pathetisch, sondern als gute Sache. Weil ein Schriftsteller, nach meinem Geschmack, muß
ein Fremder sein.« Ich mag diesen Satz, den Georg Tabori gegen Ende seines Lebens in einem Radiointerview gesagt hat.
     
    »Meine Heimat ist mein Handy«, sagte meine Tochter einmal.
     
    Für den Flug nach Zürich wird eine Verspätung notiert. Ich krame das Taschenbuch »Über-Empfindlichkeit« von Silvia Bovenschen aus meinem Rucksack. Blond, denke ich, schmal und mit einer hellblauen Strickjacke. Vielleicht hat Silvia Bovenschen beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt einmal eine dünne, blaue Strickjacke getragen. Vielleicht fällt mir auch nur die Farbe ihrer Augen ein, die in der Erinnerung die ganze Person in ein helles, blaues Licht tunkt. An einem eingerückten Cioran-Zitat bleibe ich hängen:
    »So wie der Geist, ersinnt auch das Herz sich Utopien; die merkwürdigste davon ist die eines heimatlichen Alls , wo man ausruhen darf von sich selber - auf einem kosmischen Ruhkissen für all unsere Müdigkeiten. Nicht nach etwas Handgreiflichem strebt die Sehnsucht, sondern nach einer abstrakten Wärme, grundverschieden von der Zeit und einem paradiesischen Vorgefühl nah verwandt.«
    Cioran war ein Schlafloser, denke ich und lese weiter:
    »Alles, was die Existenz als solche nicht gelten läßt, grenzt an Theologie.«

    Stimmt das? Beginnt Theologie nicht gerade da, wo ich an etwas sehr Konkretes, Lebendiges glaube? - »Die Sehnsucht ist also nichts anderes als eine Gefühls-Theologie, deren Absolutes sich aus den Elementen des Wunsches zusammensetzt und deren Gott ein von der Ermattung ausgearbeitetes Indeterminiertes ist.«
    Die Abflugtafel zeigt weitere 20 Minuten Verspätung. Ich ziehe die Beine hoch auf den Stuhl, lehne mich zurück und denke, daß ich die Existenz als solche fraglos gelten lassen und jetzt nur noch ganz profan nach Hause will.

Februar
    Vollmond, Pferdeschlitten sind unterwegs. Man kann sich in der hellen Nacht,

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