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riecht es, als ob jemand gestorben ist«, bemerkte ich. »Mach doch mal ein Fenster auf.«
Wir standen in einer schummrig beleuchteten Küche; das Tropfen des leckenden Wasserhahns hallte in dem winzigen Raum wider. Zu meiner Rechten befanden sich ein Bücherstapel, eine Lampe ohne Schirm und zwei unbezogene Kissen auf dem Boden. »Hier lang«, sagte Kyle und zog mich in ein anderes Zimmer, in dem ein ungemachtes Bett, ein Sessel mit lilafarbenem Samtbezug und eine Lampe mit einem pinkfarbenen Fransenschirm standen. Kyle hatte Recht; die Wohnung war ein Loch.
Kyle hockte sich auf die Matratze und zog ein braunes Päckchen aus der Tasche. Seine knochigen Finger nestelten fieberhaft daran herum.
Kurz hörte er auf, um mich anzusehen. »Setz dich.«
»Ich will nach Hause.« Ich hatte meinen Mantel immer noch an.
»Warte«, sagte er. Er streute sich eine Testportion auf den Handrücken, sog sie durch die Nase ein und warf den Kopf zurück. Ich ließ mich auf den Sessel fallen und machte den Mantel auf. Jetzt würden wir nirgendwo mehr hingehen. Ich sah zu, wie Kyle das ganze Pulver einsaugte. Ich hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, ihn zu belehren. Es hatte keinen Sinn. Er würde mich nur auslachen und mir sagen, dass ich cool bleiben solle.
»Ziemlich lahmes Zeug«, stellte er fest, während er sich Rotz von der Nase wischte.
»Das ist mir eigentlich extrem egal.«
»Das beste Zeug kriegt man uptown.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte ich.
Kyle streckte sich auf dem Bett aus. Kurz darauf atmete er wie ein Säugling, seine Wangen waren gerötet. Er war in sich selbst versunken, beinahe komatös. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass der bescheuerte Verlauf des Abends mich letztendlich hierher geführt hatte. Ich stellte mir vor, wie Yassi nach Hause kam und mich auf ihrem grottenhässlichen Sessel geparkt vorfand. Ich hatte überhaupt keine Lust, mit einem zugedröhnten Kyle auf dem Bett von irgendjemandem ertappt zu werden. Aber ich war ziemlich sicher, dass ich allein nicht nach Hause finden würde.
Ich versuchte, es mir bequem zu machen, aber eine Sprungfeder drückte sich mir in den Hintern. Kyles Rache. Ich zog meine Füße unter meinen Körper. Die Stiefel wollte ich gar nicht erst ausziehen. Dann nahm ich mir ein zerfleddertes Buch von Conrad und blätterte es durch. Kyle hatte etwas unterstrichen:
Jede Wahrheit findet ihre wirkliche und unleugbare Existenz ausschließlich in der Fantasie des Menschen. Die Fantasie, nicht die Erfindung, ist der Meister der Kunst wie des Lebens.
Wahrheit oder nicht, für mich war es eine unleugbare Tatsache, dass das Schicksal nicht wirklich auf meiner Seite stand. Warum sonst saß ich hier in Kyles Schlafzimmer fest? Kyle hatte noch mehr Randbemerkungen ins Buch gekritzelt, aber seine Schrift war unlesbar. Ich kämpfte darum, meine Augen offen zu halten, aber das Bier rauschte mit der Wirkung eines Schlafmittels durch meine Adern. Schließlich döste ich mit dem Geräusch von Kyles schwerem Atem in meinen Ohren ein.
8
Malcolm war noch nicht da. Seit etwa drei Stunden rief er immer wieder an, um mir zu sagen, dass er auf dem Weg sei. Ich versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte - ich würde die Stellung schon halten. Das Geschäft ging sowieso zäh; wir hätten uns nur um die Peanuts gezankt. Aber Malcolm war wohl körperlich unfähig, sich nicht zu sorgen.
Endlich kam er in zerknittertem Anzug mit windschiefer gelber Fliege an. Sein bleiches Gesicht war übersät mit drahtigen schwarzen Stoppeln. »Ich war die ganze Nacht auf«, sagte er, während er seine Spock’schen Ohren aufstellte. »Ich bin wie besessen vom Schreiben.« Er sah aus, als ob er mehr als eine Nacht nicht geschlafen hätte: seine Haare waren zerzaust, seine Augen blutunterlaufen. Er öffnete seine Aktentasche. »Hier«, sagte er und drückte mir ein Manuskript in die Hand.
»Lesevergnügen. Damit Sie wenigstens wissen, mit wem Sie hier zusammen Hüftgürtel verscherbeln.
Seine Professionalität war erstaunlich: Das Stück war mit einfachem Zeilenabstand und in winziger Punktgröße geschrieben. Er hatte offenbar einiges mitzuteilen, und das sagte ich ihm auch. Er antwortete, dass ich auch Stoff für Jahrzehnte haben würde, wenn meine Kindheit so grausig wie seine gewesen wäre. Ich hatte übrigens auch schon mal versucht zu schreiben. Meistens fing ich irgendwas an und ließ es dann in einer Schublade vor sich hingammeln. Vor ein paar Jahren wurde eine
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