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Kyle. Das ohrenbetäubende Stimmengewirr im Hintergrund war so laut, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
»Ich bin in dem Laden an der Ecke«, brüllte er.
»Aha?«
»Komm schon, Alex, nicht auf die Tour«, sagte er, als wäre ich diejenige, die Probleme machte. »Ich hab doch gesagt, dass es mir Leid tut.«
»Ich bin gerade erst nach Hause gekommen.«
»Komm runter.«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich hab keine Lust.«
»Ich geb dir ein Bier aus«, versuchte er es. »Um das mit gestern Abend wieder gutzumachen.«
»Oh, toll, danke sehr!« Er tat ja beinahe so, als wollte er mir einen Diamanten schenken.
»Komm doch - sei nicht kindisch«, quengelte er. »Mir tut es wirklich Leid.«
Ich schwieg.
»Diesmal wirst du bestimmt nach Hause finden.« Er lachte.
»Darum geht es nicht«, sagte ich. »Ich bin müde.«
»Schlafen kannst du, wenn du tot bist!«
Damit hatte er Recht. Ich lauschte auf den Lärm im Hintergrund. »Und?«
»Vielleicht.« Ich wusste nicht, was schlimmer war - mit Kyle abzuhängen oder allein in Carmis Wohnung herumzusitzen.
»Cool«, freute er sich. »Ich bin in der Irish Bar an der Nineteenth ...«
»Ich kenn sie.«
»Bis gleich«, hörte ich noch. Die Leitung war tot. Ich hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand, während ich versuchte, mich zu entscheiden. Ich hatte die dumpfe Ahnung, dass diesmal die immer abwesende Yassi da sein würde. Ich war neugierig, wenn auch nur, weil Kyle mir schon so viele wilde Storys über sie erzählt hatte. Natürlich wusste ich, dass ich mich ködern ließ; ich ließ mich wieder mal zum Mitspieler bei Kyles Lieblingsmasche machen. Die bestand darin, mich irgendwo hinzuschleppen, wo er eine Frau treffen wollte, die es zu beeindrucken galt. Meine Anwesenheit sollte seinen Coolness-Quotienten um etwa fünfzig Prozent steigern. Kyle folgerte so: Wenn ich schon eine Frau dabei habe, dann muss doch etwas an mir dran sein, oder? Es war ein erprobter Plan, der ihm nahezu immer eine heiße Nacht bescherte. Ich hatte allerdings so gut wie nie etwas davon.
Kyle stand wie ein Wächter am Eingang. Sobald er mich sah, fiel er über mich her und drückte mein Gesicht gegen seinen Brustkorb. Mich störten seine etwas groben Zuneigungsbekundungen nicht; man gewöhnt
sich nach einer Weile daran. Er packte mein Handgelenk und führte mich an der übervollen Theke vorbei zu einer Nische in der Ecke, wo eine Frau saß, bei der es sich nur um Yassi handeln konnte. Sie hatte ihre langen Beine in den Gang gestreckt und ihre Arme um den rasierten Kopf geschlungen wie eine exotische, versoffene Shiva. Ihre Augen waren glasig, ihre Nase spitz und winzig wie die einer Barbie. Ich hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, konnte mich aber nicht erinnern, wo. Kyle rutschte durch und setzte sich neben sie. Yassi war nicht überrascht, mich zu sehen. Ihr Mund blieb schnurgerade wie ein Lineal, eine Zigarette steckte zwischen ihren spröden Lippen. Sie war ganz und gar Kyles Typ - schlaksig, geschmeidig und ein abgewetzter Look, als ob man sie zu oft gewaschen hätte.
»Das ist die berühmte Alex«, verkündete Kyle.
Yassi nickte kühl. »Er redet dauernd von dir.«
Ich begrüßte sie so freundlich, wie ich es fertig brachte. Kyle ließ uns allein, um an die Bar zu gehen. Eine Minute lang sagten wir gar nichts. Meine grauen Zellen suchten fieberhaft nach einem Thema. Aber sie kam mir zuvor.
»Kyle hat mir nie gesagt, dass du so gut aussiehst.« Yassi verengte die Augen. »Fickt ihr miteinander?«
»Nein.«
»Er sagt, dass ihr es getan hättet.«
»Er lügt oft.«
»Er ist ein Wichser.«
»Ja.« Normalerweise nannten sie ihn Arschloch.
»Und wieso bist du mit ihm befreundet?«
»Ich weiß nicht«, gab ich zu.
»Er hat einen großen Schwanz.«
Als ob mich das interessierte. »Behauptet er.«
Sie seufzte und biss sich dann auf den Fingernagel. Ihre Nägel waren bis auf die Kuppen abgekaut. »Er kriegt ihn nicht hoch.«
»Das ist mir ziemlich egal.«
»Ich sag’s dir ja nur.«
Mir fiel auf, dass sie kaum einen Akzent hatte. »Ich dachte, du wärst Französin.« Das hatte Kyle mir jedenfalls gesagt.
»Ich bin in Algerien geboren. Meine Eltern sind Fundamentalisten.«
Ganz wie Christians Freundin. Wer hätte gedacht, dass es in New York so viele Algerier gab!
Kyle bahnte sich seinen Weg zurück zu uns und ließ die Biergläser hart auf den Tisch knallen. Er musste noch etwas von unserem Gespräch mitbekommen haben, denn er sagte: »Sie ist mit
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