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nachgedacht wie es wohl mit ihm wäre, aber nur flüchtig. Ich hatte zumindest genügend Zeit mit ihm verbracht, um sagen zu können, dass wir bestimmt gut miteinander auskommen würden. Dennoch war es keine leichte Entscheidung für mich. Und wenn ich Ja sagte, wäre ich erst mal auf ihn angewiesen.
Ich war mir noch immer nicht sicher und das sagte ich ihm. Jan schien im Augenblick zufrieden mit dieser Antwort. Wir kehrten zur Straße zurück und stiegen in ein Taxi. Jan lud mich in ein teures Restaurant ein, in dem wir eine Flasche Champagner tranken, als würden wir den Anfang feiern und nicht das Ende.
30
Am nächsten Morgen bekam ich einen Anruf von Louis, dem Portier: Kyle wartete unten. Offensichtlich war er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich hatte keine Lust, ihn zu sehen. Louis klingelte noch zweimal an; Kyle ließ sich nicht abwimmeln. Doch ich weigerte mich weiterhin, ihn zu empfangen. Louis meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, er würde ihn schon an die Luft setzen. Ich konnte trotz allem nicht umhin, mich elend zu fühlen. Immerhin war Kyle mein ältester Freund. Nichtsdestoweniger war es für mich das Beste, ihn nicht zu sehen.
Eine Viertelstunde später klingelte das Telefon. Ich dachte zuerst, es müsste Kyle sein, der mich von der nächsten Ecke anrief, um mich zu beschimpfen, aber er war es nicht.
»Hallo, meine Liebe«, sagte Carmi fröhlich.
»Hi, Carmi«, erwiderte ich, ehrlich erleichtert. Es war schön, mit jemandem sprechen zu können, der mit dem Chaos der letzten Wochen nichts zu tun hatte.
»Wie geht’s?«
»Ganz okay«, log ich.
»Nur ganz okay?«
»Gut«, verbesserte ich mich. »Vielleicht bin ich ein bisschen einsam.« Ich wusste nicht, was mich dazu gebracht hatte, so etwas zu sagen.
»Die Stadt ist eben so«, entgegnete er.
»Wahrscheinlich.«
»Hast du keine Freunde gefunden?«
Freunde. Wahrscheinlich hatte man Christian als solchen bezeichnen können. Aber Christian war tot. »Nicht wirklich«, antwortete ich.
»Na ja«, sagte Carmi. »Ist vermutlich auch besser so.«
Carmi hatte Recht. Es wäre besser gewesen, wenn ich mich ausschließlich um mich gekümmert hätte.
»Wie ist es so in Puerto Rico?«, fragte ich.
»Traumhaft.«
»Wie im Paradies?«
»Bis hin zum Apfel.« Carmi kicherte.
»Schön«, freute ich mich für ihn.
Mir fiel wieder ein, dass Christian für ihn ein Paket hatte abgeben sollen. »Carmi«, begann ich, »Christian, dein Nachbar, hat immer noch nichts für dich abgegeben.« Über Christian im Präsens zu sprechen, klang so falsch. Aber ich wollte wissen, was Carmi erwartete. Ich war bereits zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht um Drogen handeln konnte. Carmi hatte in seinem Arznei-Schrank nicht einmal rezeptfreie Medikamente.
»Oh«, antwortete Carmi. »Mach dir deswegen mal keine Sorgen.«
»Tu ich auch nicht«, sagte ich. »Ich hab mich nur gefragt...«
»Die Leute haben heutzutage immer so viel zu tun«, fuhr Carmi fort. »Und Christian kommt mir nicht sehr verlässlich vor.«
Es war schwer, verlässlich zu sein, wenn man tot war.
»Ich erzähl dir alles, wenn ich zurückkomme«, sagte er.
»Da bin ich mal gespannt«, antwortete ich und versuchte, nicht allzu neugierig zu klingen.
»Also, bis in ein paar Tagen dann.«
»Okay.«
»Dann reden wir über alles.«
Wenn er wüsste.
Wider besseren Wissens - und entgegen Jacobs Rat - wagte ich mich hinaus. Trotz meiner Angst, vielleicht aber auch gerade deswegen, hatte ich Hunger. Mein Appetit kehrte langsam zurück und es gab nichts mehr zu essen in Carmis Kühlschrank; ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Supermarkt gewesen war. Ich presste meine Handfläche gegen das Fenster, um herauszufinden, wie kalt es war: Die Scheibe war eisig.
Als ich an Louis Vorbeigehen wollte, signalisierte er mir mit seiner tellergroßen Hand, dass er mir etwas zu sagen hatte. Ich wartete darauf, dass er sein Telefonat beendete. Schließlich legte er auf und sagte: »Sie müssen mehr wählerische sein.«
Ich nickte. Erzählen Sie mir was Neues.
\
»Dieser Type. Mit gebrochen Arme.« Er winkelte seinen Arm an, um zu unterstreichen, von wem er redete.
»Ich weiß, wen Sie meinen«, antwortete ich.
»Der iste nichte richtige in Kopfe.«
»Meinen Sie?« Ich fragte mich, warum ich mir die Meinung eines Menschen anhörte, der »Louis, der Chinamann« genannt wurde.
»Jap«, sagte er und ruckte an den Armelaufschlägen seiner Uniformjacke.
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