Alle meine Schaefchen
Egerton-Farm ausmachte, obgleich er jetzt an verschiedenen Stellen zeitweilig unter einem verharschten Schneebrett verschwand. Durch die Bäume und das dichte Buschwerk wurden das Licht und die Geräusche gedämpft, so daß es mir schien, als wandelte ich durch die Kreuzgänge einer riesigen Kathedrale. Als eine Ringeltaube, die auf einem der oberen Äste gesessen hatte, plötzlich davonflog und dadurch ein Schneeschauer auf mich herabrieselte, hätte man meinen können, es wäre Hochzeitskonfetti gewesen. Hier war es wärmer als draußen auf den offenen Feldern, und oft waren an den steilen Hängen schon die grünen Blattspitzen von blauen Traubenhyazinthen zu sehen.
Nach Ferdinand, dem rotbraunen Stierkalb, und seinen übermütigen Freunden braucht man nicht erst lange zu suchen. Sobald ich ihre Weide betrat, kamen sie auf mich losgestürmt und suchten nach Futter. Unter ihren Hufen stob der Schnee in alle Richtungen: Sie waren offensichtlich in bester Verfassung.
Ferdinand weigerte sich einfach zu akzeptieren, daß ich mit leeren Händen gekommen war. Er folgte mir auf den Fersen und stupste mich mit der Schnauze, so daß ich stolperte und vor mich hinfluchte. Ein typischer Fall von zu familiären Anzüglichkeiten. Wir hatten ihn als Milchkälbchen großgezogen und fast wie ein Schoßtier behandelt. Die etwas rauhe Weise, uns seine Zuneigung mitzuteilen, mochte zwar rührend sein, aber ich war doch froh, als ich das Tor passiert hatte und ihn sowie die übrige vierbeinige Eskorte zurücklassen konnte.
Auf dem Abfallplatz hatte John ein Feuer gemacht und verbrannte seinen Müll. Wir standen dort eine Weile beisammen, wärmten unsere Hände und sprachen miteinander. Besonders der Terrier freute sich über die Wärme. Seine unteren Körperpartien waren durch das Laufen im tiefen Schnee ziemlich unterkühlt. Er kroch derart nah an die Flammen heran, daß man Angst haben mußte, er würde sich den Pelz verbrennen.
Doch obgleich wir eingeschneit waren, hatten wir durch die tägliche Arbeitsroutine genügend auf dem Hof zu tun. Die Kühe mußten gemolken und die Schweine gefüttert werden. Es war bereits dunkel, als wir endlich fertig waren und ins Haus gehen konnten. Shirley beendete gerade ein offensichtlich längeres Telefongespräch.
»Türkis«, sagte sie und stöpselte den elektrischen Wasserkessel ein.
Verständnislos sahen John und ich uns an.
»Türkis?«
»Katies Kostüm, in dem sie weggelaufen ist, natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte John.
In meinen Augen war diese Beobachtung recht merkwürdig, und was ich noch viel schlimmer fand, war, daß ich befürchtete, diese Stimmung könnte sich auf andere übertragen.
»Die beiden sind keine Kinder mehr, die ausreißen, um sich in Gretna Green trauen zu lassen, weißt du«, gab ich ihr zu bedenken. »Es handelt sich um zwei Erwachsene mittleren Alters, die ihre liebebedürftigen Familien im Stich gelassen, ihre Verantwortungen nicht wahrgenommen und die Herzen ihrer hart arbeitenden, vertrauenden Ehepartner gebrochen haben...«
Die Wirkung war gleich Null.
»Sie hat das Kostüm selbst geschneidert nach einem Schnittmuster, das Ruth — ich hab’ mit ihr gerade telefoniert — ihr geliehen hatte. Sie soll sehr schick darin ausgesehen haben.«
»Nun, das entschuldigt natürlich alles«, erwiderte ich bissig. »MachsJ: du uns noch ‘n Tee, bevor du uns verläßt?«
»Du hast überhaupt kein Mitgefühl. Du weißt nicht zu schätzen, wie gut es dir geht«, fuhr sie mich an.
Aber sie irrte sich: Ich wußte es.
2.
Eingeschneit und ein zu früh geborenes Kalb
W ährend zehn Tagen blieb der Schnee liegen. Wir fühlten uns wie bei einer Belagerung. Obgleich wir es schafften, uns jeden Morgen mit den Milchkannen zu dem Stand hinaufzukämpfen, wagte sich niemand zu uns herunter. Der sonst übliche Zustrom an Vertretern war verebbt. Selbst der Postbote in seinem kleinen roten Combi beschloß, nicht das Risiko eine Unfalls zu wagen; er hinterlegte unsere Post oben im Gasthof, von dort konnten wir sie uns abholen, sobald das Wetter es zuließ. Allerdings hatte er uns am Telefon zugesichert, daß keiner dieser Briefe von besonderer Wichtigkeit sei.
Jeden Morgen, nachdem der Wecker um fünf Uhr explosionsartig loslegte und unbarmherzig meine Träume zerstörte, kletterte ich aus dem Bett, zog mich eilig an und trat hinaus in eine unwirkliche Märchenwelt, die mit Zuckerguß überzogen schien. Auf den Dächern der Gebäude lagen zehn Zentimeter
Weitere Kostenlose Bücher