Alle meine Schuhe
Amy richtete sich auf und sah ihn neugierig an.
» Kraftwerk ? OMD ? Erasure ?«
Amy runzelte die Stirn, und er grinste verlegen. »Ich bin nicht sonderlich stolz auf meine Synthie-Pop-Vergangenheit«, flüsterte er. »Aber in Russland haben wir uns das damals alle angehört.«
»Du hast mein Mitgefühl, Sergei. Aber es gibt bestimmt Organisationen, die in solchen Fällen Hilfe anbieten …«
Sergei lachte laut auf. »Diese Bemerkung könnte glatt von deiner Mutter stammen!«
Amy hob ruckartig den Kopf. Da war es. Darauf hatte sie gewartet. Sergei war ihre Verbindung zur Vergangenheit – und zu einer Seite ihrer Mutter, von der sie unbedingt mehr erfahren wollte. Ihre Mutter, Hannah Powell, war die beste Odette in Schwanensee gewesen, die dieses Land je hervorgebracht hatte – so überschwänglich hatten die Kritiken sie damals beschrieben.
»Einmal, während meiner Zeit als Tänzer, hatte ich mir Orangensaft über mein Kostüm geschüttet, kurz bevor ich raus auf die Bühne musste. Deine Mutter hat genau das Gleiche getan wie du heute Abend – sie hat sich immer um mich gekümmert – fast wie eine Glucke.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Amy mit den zusammengeknüllten Servietten in der Hand und wusste nicht, wohin damit. »Sie hat jeden bemuttert.« Während sie sich im Raum umsah, wurde ihr bewusst, dass wohl sicher keine der anwesenden Frauen sich in diese missliche Lage gebracht hätte. Wahrscheinlich müssten sie nur mit den perfekt manikürten Fingern schnipsen und ein Kellner käme herbeigeeilt, um das Malheur zu beheben.
»Ich habe mir mal die Haare orange gefärbt, um auszusehen wie Bowie in seiner Aladdin Sane -Phase.« Typisch Sergei. Er wusste instinktiv, wie man peinlichen Momenten entkam.
»Ehrlich?« Amy lachte erleichtert.
Sergei nickte. »Nur wenig später habe ich sie mir ganz kurz schneiden lassen – das war, bevor ich dann total auf Yellow Magic Orchestra stand. Ach, und dann gab es da noch das Weekend Sparks … «
Während Sergei in Erinnerungen an die Musik der Siebziger- und Achtzigerjahre schwelgte, bemühte sich Amy angestrengt, seinem umfassenden Wissen über Synthesizer Pop-Musik zu folgen. Aber schon bald drifteten ihre Gedanken ab …
Sergei Miskov. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich schon wieder? Aber ich musste herkommen!
Mum, sie ist der Grund. Dieser Ort hier, das war Mums Welt, und Sergei war Mums Freund in einer anderen Zeit, lange vor mir, vor Dad, vor ihrem Abschied vom Ballett, um mich großzuziehen … Das hier schulde ich Mum. Mich in ihrer Welt zu bewegen, herauszufinden, was sie gefühlt hat, mit Menschen zusammen zu sein, die ihr wichtig waren. Auf diese Weise lebt sie in mir nicht nur als meine Mum weiter, sondern auch als der Mensch, der sie darüber hinaus war …
»Ah, Ultravox – schwierige Frage. Gehörten die wirklich zu dieser Stilrichtung …?« Sergei war jetzt so richtig in Fahrt gekommen und gestikulierte wild mit den Armen, während er das Vienna -Album detailliert beschrieb …
Und diese Abende waren gar nicht so übel, auch wenn ich mir vorkam wie ein Kind unter Erwachsenen. Sergei ist wunderbar und die Darbietung auf der Bühne ebenfalls. Über die Musik lässt sich hin und wieder streiten, aber daran arbeite ich. Ich wünschte nur … ich hätte Justin von Anfang an eingeweiht. Warum zum Teufel habe ich das nicht getan?
Sie kannte die Antwort darauf nur zu gut. Als Justin Sergei zum ersten Mal begegnete – etwa ein Jahr war das jetzt her -, hatte er aus seinen Gefühlen keinen Hehl gemacht. Er mochte ihn nicht und traute ihm nicht über den Weg.
»Amy? Die Pausenglocke hat geläutet.« Sergei hatte sich vorgebeugt und schaute ihr in die Augen.
»Wie bitte?«
»Ich muss dich irgendwo zwischen The Human League und Fad Gadget verloren haben. Entschuldige bitte.«
»Nein, mir tut es leid!« Die Klingel zum nächsten Akt erklang erneut.
»Kein Problem!« Er winkte ab. »Aber wir müssen wieder reingehen: Zeit für den zweiten Akt!«
4. Kapitel
M ontagmorgen, eine Woche später. Amy drehte sich im Bett um, schob die Decke weg und zwang sich, aufzustehen. Sie tapste hinüber ins Badezimmer.
So lange ich lebe, gehe ich nie wieder zum Isle of Wight Festival. Ich gehe überhaupt nie mehr mit Debbie und Jesminder aus.
Amy betrachtete ihr übernächtigtes, verkatertes Gesicht im Badezimmerspiegel.
Jedenfalls nicht mehr in diesem Jahr.
Sie schüttelte den Kopf über ihren traurigen Anblick und zwang sich, zu lächeln. Gott
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