Alle meine Schuhe
Rat.
Und wenn sie dann später ins Apartment zurückkehren würde, würde sich alles als fürchterlicher Irrtum entpuppen. Justin würde ihr die Möglichkeit geben, alles zu erklären, er würde sich bei ihr entschuldigen, und sie sich bei ihm. Und ihre Schuhe würden wieder an ihrem Platz im Schuhschrank stehen. Da gehörten sie hin – nicht in alle Winde verstreut.
Als Amy auf ihre Frage nicht antwortete, ging Jesminder stirnrunzelnd weiter. Sie arbeitete im Stockwerk über Amy in der Finanzabteilung, nicht weit von Debbie, die im Vertrieb tätig war.
Amy konnte sich einfach nicht konzentrieren. Sie war hinund hergerissen zwischen dem Wunsch, laut loszuheulen, oder auf der Stelle Justin aufzuspüren, ihn – in Gummistiefeln – zu stellen und zu zwingen, zur Vernunft zu kommen.
Aber sie war selbst verblüfft, wie sehr der Verlust ihrer Schuhe sie mitnahm. Es waren doch nur Schuhe, um Himmels willen – sie konnte problemlos den Schaden ihrer Versicherung melden und sich neue kaufen! Aber darum ging es nicht. Übertrieben oder nicht: Amy liebte ihre Schuhsammlung; mehr noch, sie brauchte sie. Diese Schuhe nicht mehr zu haben war so, als hätte sie ihr Tagebuch verloren, das sie Jahr für Jahr gehütet hatte und in dem alle wichtigen Ereignisse, Menschen und Gefühle festgehalten waren. Diese Schuhe waren ihre persönliche Geschichte, die Säulen ihrer Erinnerung. Sie zu entfernen, konnte alles zum Einstürzen bringen.
Aber das Schlimmste kam ja noch: Justin hatte keine Skrupel gehabt, sogar ihren kostbarsten Schatz wegzugeben – die Ballettschuhe ihrer Mutter. Das einzige Paar, das Amy besaß, aufbewahrt in diesem schmalen Karton ohne Foto. Und nun bekam sie diesen Mistkerl nicht ans Telefon, um herauszufinden, wohin er sie geschickt hatte. Wer würde überhaupt für ein altes Paar Tanzschuhe bieten? Die Antwort traf sie wie ein Schlag. Im Internet wimmelte es von Souvenirjägern. Auf der ganzen Welt gab es Ballettliebhaber, die vor Freude einen Luftsprung machen würden, wenn sie ein kleines Stück Royal Ballet-Geschichte ergattern konnten – allem voran die Tanzschuhe, die einst Hannah Powell getragen hatte, Großbritanniens wunderbarste Odette.
Und während die Schuhe auf dem Weg zu irgendeinem namenlosen, gesichtslosen Käufer waren, saß eine zutiefst unglückliche junge Frau an ihrem Schreibtisch. Sie trug gelbe Gummistiefel, die nach Bier getränktem Matsch rochen, versuchte, die Liste der Zielvorgaben für diesen Kalendermonat zu durchblicken und war um das kostbarste Erinnerungsstück an ihre Mutter beraubt worden.
In diesem Moment blinkte auf ihrem Bildschirm der Instant Messenger: Eine Nachricht von Jesminder.
Jes: Alles in Ordnung, Amy?
Und da kam schon die nächste Nachricht, von einer anderen Stelle im Haus.
Debs: Jes hat mir erzählt, dass du heute Gummistiefel anhast. Bist du jetzt durchgeknallt?
Amy grinste gequält und tippte eine Antwort:
Amy: Wie viel Zeit habt ihr?
Debs: Wie lange sind wir heute noch im Büro?
Jes: Willst du es uns wirklich erzählen? Wir wollen nicht neugierig sein.
Debs: Du vielleicht!
Amy holte tief Luft und begann zu tippen.
Amy: Justin wirft mir vor, ich hätte eine Affäre. Er will, dass ich sofort aus dem Apartment ausziehe und lässt die Schlösser austauschen. Und er hat alle meine Schuhe über eBay verscherbelt, während ich mit euch beiden am Wochenende weg war. Er ist jetzt irgendwo im Norden, und ich bekomme ihn nicht ans Telefon. Es ist aus zwischen uns.
Debs: Du machst Witze.
Jes: Das glaube ich einfach nicht!
Amy: Verständlich.
Debs: Dieser Widerling!
Jes: Wirst du gehen?
Amy: Keine Ahnung.
Debs: Dann stimmt es also?
Jes: Debs, lass es.
Amy: Stimmt was?
Debs: Hast du eine Affäre?
Jes: Schon wieder ins Fettnäpfchen getreten, Deb.
Amy: Natürlich nicht.
Jes: Siehst du!
Amy: Jedenfalls nicht so wie ihr denkt.
Debs: Jetzt wird’s spannend.
Jes: Was haltet ihr von Lunch?
Amy: Kein Hunger.
Debs: Alle deine Schuhe? Jedes einzelne Paar?
Amy: Bis auf die Gummistiefel. Die hatte ich nämlich an, du erinnerst dich?
Debs: Das ist schon fast komisch, entschuldige, Süße.
Jes: Debs, würdest du jetzt bitte die Klappe halten?!
Amy: Er hat die Tanzschuhe meiner Mutter verkauft.
Pause.
Jes: Oh.
Debs: Mist.
Amy: Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Jes: Als Erstes musst du etwas essen. Treffen wir uns um zwölf? Debs: Und dann müssen wir der Frau ein Paar Schuhe kaufen. Auf unsere Kosten,
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