Alle meine Schuhe
von einem Bild zum nächsten ging, machte der Anblick sie sowohl glücklich als auch traurig. Sie waren die perfekte Bilderbuchfamilie. Dank Sergeis netter, offener Art kam es ihr so vor, als würde sie seine Familie bereits kennen.
Schau dich nur um, Justin. Diese Menschen stellen wohl kaum eine Bedrohung für dich dar, oder?
Lisa war mit den Kindern über die Ferien zu ihren Eltern nach Anaheim gefahren. In fünf Tagen sollten sie zurückkommen. Sergei wurde am gleichen Tag von seiner Asientournee zurückerwartet.
»Amy?«, rief Maria, die sie allein gelassen hatte, damit sie sich in Ruhe umsehen konnte, leise von der Haustür aus.
»Ja?« Amy wirbelte herum und eilte zur Tür. Sie war ganz versunken gewesen in die Betrachtung eines Ballettensembles, bei dem sich alle Mitwirkenden am Ende der Vorstellung um Sergei versammelten und ihm applaudierten. Aber – und sie hatte sich das Bild sehr genau angesehen – ihre Mutter war nicht dabei.
»Sie können unmöglich den ganzen Abend allein hier verbringen. Kommen Sie zum Abendessen zu Antonio und mir. Es wäre uns eine Freude.«
Obwohl Amy überwältigt war von Marias Freundlichkeit, zögerte sie. Sie fühlte sich völlig erledigt. »Maria, ich danke Ihnen vielmals. Aber würden Sie es mir verübeln, wenn ich nicht käme? Sie sind so nett zu mir, und ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber …«
Amy brauchte nicht mehr zu sagen. Maria drückte ihr einen Schlüsselbund in die Hand. »Nehmen Sie die. Es sind Ihre. Meine Telefonnummer steht auf dem Zettel da drüben. Sie müssen mir versprechen, anzurufen, falls Sie irgendetwas brauchen, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, einverstanden? Werden Sie das tun?«
»Werde ich, Maria.«
»Und, Amy?«
»Ja?«
»Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Nehmen Sie sich, was immer Sie brauchen. Mr Sergei hat darauf bestanden, dass ich Ihnen das sage.«
»Ich … das werde ich. Vielen Dank.«
Nachdem Maria weg war, schlenderte Amy durchs Haus. Sie atmete den Duft der Blumen ein und mit der zunehmenden Gewissheit, vorübergehend eine Art Zuhause zu haben, löste sich ihre Anspannung. Hinter dem Haus lockte im Schatten der Bäume ein großer Pool. Aber obwohl sie sich schon besser fühlte als zu Beginn dieses Abenteuers, war sie doch nicht in der Stimmung, einfach ihre Kleider abzustreifen und hineinzuspringen.
Sergei hatte unmissverständlich gesagt, dass sie sich wie zu Hause fühlen sollte. Er hatte sogar darauf bestanden, dass sie sein Büro benutzte, einen getäfelten Raum, den man vom Esszimmer aus betrat. Sie sollte die Möglichkeit haben, am Computer ihre Mails zu checken.
Wenn denn da welche wären.
Trotzdem fühlte sich Amy wie ein Eindringling, als sie hineinschlich und sich über seinen Laptop beugte, der auf einem riesigen Eichentisch stand. Sergei hatte erwähnt, dass das Haus über drahtlosen Internetzugang verfügte. Also schnappte sie sich den Laptop und nahm ihn mit ins Wohnzimmer. Das war ihr angenehmer, als in Sergeis Allerheiligstem zu bleiben.
Sich in den Computer eines anderen einzuloggen, weckte unliebsame Erinnerungen an die Schnüffelaktion in ihrem – beziehungsweise Justins Apartment.
Sie spürte, wie ihr Herz schlug, während sie darauf wartete, dass der Computer hochfuhr. Obwohl sie wusste, wie gering die Chance war, dass Justin sich per Mail bei ihr gemeldet hatte, um sich zu entschuldigen, fühlte sie sich besser damit, jenes bisschen Hoffnung nicht aufzugeben.
Natürlich hatte er nicht geschrieben. Amy seufzte, rieb sich über die Stirn und versuchte, ihre Enttäuschung zu verdrängen und nicht loszuweinen. Auch wenn niemand da war, der sie hören könnte. Sie ging ihre Mails durch. Angebote für Kredite mit niedrigen Zinsen, Penisverlängerungen sowie Ankündigungen von Wahnsinns-Preisnachlässen für den kommenden Schlussverkauf bei Topshop und Flugtickets zu Schleuderpreisen. Alles Spams. Aber dann entdeckte Amy eine Mail, über die sie sich riesig freute: von Debbie.
»Debs, du treue Seele!« Amy setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa, nahm den Laptop auf den Schoß und machte es sich bequem, um sich der Nachricht in aller Ruhe zu widmen.
Von: Debs
An: Amy Marsh
Thema: Polnische Bälle!!!
Hallo, du Weltenbummlerin, wie läuft’s?
Hoffe, du benimmst dich (nicht) und dein Koffer quillt über vor zurückeroberten Schuhen – zeig’s ihnen, Babe! Du-weißt-schonwer ist mir bisher nicht über den Weg gelaufen, was aber besser für ihn ist, weil ich ihm sonst eine
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