Alle meine Schuhe
auf einer Holzbank hinten im Rosengarten von Pleasant Shores . Knapp sechs Meter vor ihr sah sie seine hochgewachsene, schlanke Gestalt mit der aufgebauschten anthrazitfarbenen Windjacke. Ganz zu schweigen von den gebräunten, muskulösen Beinen unterhalb der khakifarbenen Bermudas, den breiten Schultern … Schluss jetzt, Marsh. Konzentrier dich.
Er war nicht allein. Neben ihm saß eine weißhaarige Dame in einem Rollstuhl. Alice Hewitt. Und auf ihrem Schoß lag das Päckchen. Amy setzte sich auf die Steinmauer, die an der Längsseite der Veranda entlang lief, und schob sich Stück für Stück nahe genug heran, um das Gespräch der beiden belauschen zu können.
»Mach es doch jetzt schon auf, Grandma.«
»Jack, Liebling, mein Geburtstag ist erst morgen. Davon abgesehen liebe ich es, dich ein bisschen auf die Folter zu spannen. Du konntest es noch nie gut aushalten, wenn die Leute ihre Geschenke nicht auf der Stelle auspacken.«
Amy hielt den Atem an und spürte, dass es ihr da nicht viel anders ging …
Es war nicht leicht gewesen, die beiden zu finden. Beim Betreten der riesigen Eingangshalle war Amy beeindruckt gewesen von der verschwenderischen Dekoration mit rosenroten Tapeten, Teppichen, Landschaftsaquarellen, gerahmten Fotos, Vasen voller Blumen und einer großen Schale mit Obst auf dem Empfangstresen aus Mahagoni. Eine Mischung verschiedenster Düfte hing in der Luft.
Eine Krankenschwester war aus einem Nebenraum gekommen und hatte Amy erschrocken zusammenfahren lassen. Die Schwester war kräftig gebaut, ihre hellblaue Baumwolluniform spannte, und ihr Ehering schnitt tief in den Ringfinger.
»Oh! Hallo! Entschuldigung, Sie haben mich so überrascht! Ich bin zum ersten Mal hier und auf der Suche nach Alice … Alice Hewitt?«
Das Gesicht der Schwester wurde freundlicher. »Ach, Alice, ja natürlich! Meine Güte, heute will irgendwie jeder zu ihr! Ihr Enkelsohn Jack ist auch schon da!«
»Jack?«, wiederholte Amy. »Oh! Jack! Großartig!«
Die Schwester runzelte die Stirn. »Sie sind keine Verwandte, oder?«
»Nein!«, entgegnete Amy und rang sich ein leises Kichern ab. »Nur eine Freundin. Aus London.«
»Tatsächlich.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es die Schwester nicht sonderlich interessierte, wo Amy herkam. Sie wies mit dem Kopf in Richtung des langen Flurs.
»Zimmer 1-0-3. Gerade durch. An der ersten Abzweigung links, dann die zweite rechts, noch mal rechts und dann ist es das vierte Zimmer auf der linken Seite.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen versuchte Amy die Informationen zu verarbeiten, bevor sie den Flur hinuntertrottete, absichtlich langsam, um keinen Verdacht zu erregen. Musik schallte bis in den Flur: Bigband-Klänge, anscheinend eine sehr alte Aufnahme, als säße die Band am Ende eines langen Tunnels. Dennoch hatte es Schwung und brachte Amy fast – aber nur fast – zum Lächeln.
Nach dem etwa Hundertsten falschen Abbiegen in wieder eine andere Sackgasse war Amys gute Laune aufgebraucht. Sie hätte schwören können, dass die Schwester gesagt hatte, erst nach links, dann rechts, rechts, rechts, aber hier kam sie nicht weiter. Anscheinend war sie im Kreis gelaufen.
Vorsichtig riskierte sie einen Blick durch die Tür, die auf der rechten Seite in den Aufenthaltsraum führte, wo die Musik herkam. Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Etwa ein Dutzend Leute saßen in Sesseln, die zu einem Kreis aufgestellt waren. Und in diesem Kreis tanzten zwei alte Damen in geblümten Nachmittagskleidern einen langsamen Foxtrott. Die beiden bewegten sich ein bisschen unsicher, kannten die Schritte aber genau und tanzten mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf im Takt der Musik. Amy fühlte sich wie in eine andere Zeit versetzt. Die Frauen waren der Ausdruck echten Glücks – es gab keinerlei Anzeichen von angestrengter Konzentration oder dem Bemühen, einander nicht auf die Füße zu treten. Amy selbst war berüchtigt für diese Art schwerfälligen Tanzens.
Die geblümten Kleider konnten aus der aktuellen Sommerkollektion von Cath Kidston stammen, einem Stil, mit dem Amy in ihren nostalgischen Momenten geliebäugelt hatte – Bubikragen, verdeckte Knopfreihen und bedruckte Batiststoffe. Eine der Ladies trug sogar eine Seidenrose im Haar. Und sieh sich nur einer ihre Schuhe an! Tangoschuhe aus braunem Wildleder mit feinen Riemchen und einem empörend altmodischen Absatz, der momentan in jedes Schaufenster eines Schuhgeschäfts in Covent Garden gepasst hätte.
Die andere
Weitere Kostenlose Bücher