Alle meine Schuhe
Dame fort. Amy kämpfte gegen das Bedürfnis, zu antworten: »Ich weiß!«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Amy Marsh.«
Sie reichten einander die Hand. Alices Hand war knochig, die Haut wie Papier, der völlige Gegensatz zu Jacks festem, warmem Griff.
»Setzen Sie sich, Amy Marsh – ist da Platz genug?« Alice wies auf die schmale Bank, auf der Jack gesessen hatte.
Nicht wirklich … Amy quetschte sich dennoch mit Jack zusammen auf die schmale Bank.
»Sorry«, murmelte er, als sein kräftiges Knie gegen ihres drückte.
Hm, du riechst übrigens mordsmäßig gut, Jack.
»Sorry«, flüsterte Amy zurück, als sich ihr Arm an seinen schmiegte.
Wie schade, dass du gerade dabei bist, deine nette Granny hinters Licht zu führen.
»Hier, schauen Sie sich das an.« Alice reichte Amy den Schuh.
Als Amy ihn nahm, zitterte ihre Hand.
Es war beinahe zu viel für sie. Kein Zweifel, das hier war Mums Schuh. Diese Schuhe waren ihr während der letzten Jahre ein solcher Trost gewesen. Sie hatte sie an sich gepresst und sich die Augen aus dem Kopf geweint, während sie mit den Fingerspitzen die Konturen entlangfuhr, sich vorstellte, wie sie damit ausgesehen hatte, ganz in ihrem Element war und auf der Bühne herumwirbelte.
Den Tränen nah, schaute Amy den Schuh schweigend an.
»Wie lautet der Name Ihrer Mutter?«, fragte Alice.
Amy hob den Kopf und antwortete: »Meine Mutter war Hannah Powell. Sie starb vor zwei Jahren.« Ihre Stimme war rau. Jack spürte bestimmt, wie sehr sie zitterte. »Tut mir leid, dass ich so hereinplatze, aber Mom hielt große Stücke auf Margot Fonteyn, und es ist ein sonderbares Gefühl, einen ihrer Schuhe in der Hand zu halten …« Amy brach ab, weil sie keine Lügengeschichten mehr erzählen wollte. Sie warf rasch einen Seitenblick auf Jack, ohne dass Alice es mitbekam.
Alice tätschelte Amys Knie. »Sie Ärmste. Natürlich habe ich von Hannah Powell gehört – dieser großartigen englischen Tänzerin. Was für eine Tragödie. Und was für ein glücklicher Zufall, dass sie im richtigen Moment hier aufgetaucht sind, um einen von Margots Schuhen zu sehen.«
»Sie haben früher Ballettschuhe angefertigt?«, fragte Amy und steuerte das Gespräch damit in ruhigere Gewässer. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt durch das Gefühl, diesen Schuh in der Hand zu halten und gleichzeitig so dicht neben Alices Hewitts attraktivem, nicht ganz ehrlichem Enkelsohn zu sitzen.
»Habe ich«, antwortete Alice. »Ich habe siebenundzwanzig Jahre lang in New York City für eine Firma gearbeitet, die Ballettschuhe für Tänzer in der ganzen Welt herstellte.«
»Du warst die Beste in dem Geschäft, Grandma«, mischte sich Jack ein. »Das erzählst du uns jedenfalls immer!«
»Danke, mein Schatz.« Alice lachte und tat so, als wolle sie ihm einen Klaps auf den Arm geben. »Aber, auch wenn das Eigenlob ist, ich war schon sehr geschickt – das wird man im Laufe so vieler Jahre ganz automatisch.«
Der lockere Umgangston der beiden erinnerte Amy an Justin und Phyllis. Schnell versuchte sie, eine weitere wehmütige Erinnerung zu verdrängen.
»Mum pflegte immer zu sagen, dass die Karriere einer Tänzerin mit der Stabilität ihrer Spitzenschuhe steht oder fällt – wirklich erstaunlich, wo sie doch so zart wirken. Ihre Schuhe hielten oft nur eine Vorstellung lang.« Amy fuhr mit den Fingerspitzen über den Satin.
Alice nickte. »Es hängt alles an der Verarbeitung.« Sanft nahm sie Amy den Schuh aus der Hand. »Sehen Sie das hier?« Sie drehte ihn um und fuhr mit dem Finger über die an der Sohle befestigten Satinfältchen. »Die hier sind perfekt, aber die kleinste Unregelmäßigkeit bei diesen winzigen Falten kann einen Schuh und somit einen Auftritt ruinieren.« Sie drehte den Schuh wieder und fuhr fort: »Mit der Schuhspitze ist es das Gleiche – zu viel Füllmaterial zerstört das Gefühl. Der Tanzschuh ist …«
»… eine Verlängerung des Körpers«, murmelte Amy. »Das sagte Mum auch immer.«
»Und sie hatte absolut recht!«, rief Alice mit leuchtenden Augen. Sie war jetzt Feuer und Flamme bei diesem Thema. »Sehen Sie das?« Sie strich mit der Hand über die Sohle.
»Ja«, antwortete Amy.
»Pappe. Manchmal auch Faserplatte, aber in jedem Fall werden diese Schuhe durch nichts zusammengehalten als Leim, cleveres Vernähen und ein paar winzige Nägel. Kein Wunder, dass sie meistens nicht länger als eine Vorstellung halten. Und die Spitzen – es grenzt schon an ein kleines Wunder, dass
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