Alle meine Schuhe
sie die Ballerina aufrecht halten. Nichts als Papier und Sackleinen, getränkt in Leim.«
»Komm schon!«, rief Jack. »Heutzutage verwenden sie doch bestimmt moderne Materialien?«
Alice schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Spitzenschuhe müssen hauchzart sein. Sie sind entworfen, um den Eindruck müheloser Grazie zu vermitteln, deshalb werden sie um den Fuß geformt, benutzt und dann ausrangiert.«
»Mum hat alte Schuhe manchmal noch fürs Training angezogen«, erinnerte sich Amy.
»Ja, das gibt es, aber es ist nur ein schmaler Grat von dem Moment an, in dem der Schuh eingetanzt ist und der Tänzer seine fünf Zehen spürt und trotzdem noch gestützt wird, und dem Punkt, an dem die Schuhspitze zu weich wird, um noch genügend Halt zu bieten … Sie nicken, Amy, tanzen Sie auch?«
Amy seufzte. »Ich wünschte, ja. Aber ich war nie sonderlich gut. Meine arme Mum – jahrelang hat sie mich zum Unterricht mitgenommen, bevor sie das Unvermeidliche akzeptierte. Ich habe leider die linken Füße meines Vaters geerbt!«
Alice lächelte. »Das ist schade. Das Leben einer Ballerina ist wundervoll, aber ich nehme an, das wissen Sie?«
Amys Schultern sackten mehr und mehr zusammen. Sie genoss dieses Gespräch, spürte aber auch diese unendliche Trauer. »Ich wünschte, ich hätte häufiger mit meiner Mutter über ihr Leben als Ballerina geredet. Bevor sie starb. Sie wissen schon, von Erwachsenem zu Erwachsenem …«
»Grandma, ich glaube, das Thema setzt Amy zu. Sollen wir über etwas anderes reden?«
Amy warf einen Seitenblick auf Jack. Konnte er ihre Trauer fühlen?
Sie versuchte, den Gedanken wegzuschieben. Er ist ganz schön gewieft, bloß nicht drauf reinfallen. Ein aalglatter Bursche. Natürlich möchte er das Thema wechseln! Seiner Großmutter die falschen Schuhe andrehen und mit der Geschichte durchkommen! Aber, jetzt reicht’s – ich werde diesen Kerl allein zur Rede stellen und ihm die Meinung sagen!
»Es geht mir gut, wirklich«, wandte sie sich an Alice. »Ja, Mum hat es geliebt, Tänzerin zu sein. Sie sagte immer, es sei genauso sehr Geben wie Nehmen.«
»Was für eine kluge Frau!« Alice klatschte in die Hände. »All die harte Arbeit, die Schmerzen, die Erschöpfung und dennoch – auf der Bühne zu tanzen, allein oder mit dem größten Ensemble der Welt, ist das Schönste aller Geschenke!«
Alice lehnte sich in ihren Rollstuhl zurück und schloss wie in einem Zustand der Glückseligkeit die Augen. Jack, der immer noch an Amy gepresst war, rührte sich nicht.
Amy war mittlerweile erschöpft und unschlüssig. Ihre Kopfschmerzen waren die ganze Zeit über nicht verschwunden, und so viel Neues stürmte auf sie ein, dass sie auf der Hut sein musste.
Warum ist das immer so schwierig mit der Wahrheit? Verdammt, ich kann doch nicht sagen: Sorry, Alice, aber es gibt keinen Mr Smith, und was Sie da in der Hand halten, ist der Schuh meiner Mutter. Ihr Enkelsohn sagt Ihnen nämlich nicht die Wahrheit. Und übrigens – würden Sie mir den Schuh bitte zurückgeben? Ja, das funktioniert bestimmt. Nein, ich muss Jack allein erwischen und ihn mir vorknöpfen. Aber wie? Ihm draußen an der Straße mit dem Wagen auflauern und wieder verfolgen?
»Mir ist gerade etwas eingefallen!«, rief Alice und setzte sich kerzengerade hin. »Jack, Schatz, wärst du so lieb, in mein Zimmer zu gehen und das rote Fotoalbum aus dem Regal neben meinem Schrank zu holen? Es könnte sein, dass ich ein Foto von Amys Mutter habe, aufgenommen vor etwa zwanzig Jahren!«
»Natürlich, mache ich doch gern«, erwiderte er und sprang auf.
Hier geblieben, großer schöner Mann! Nicht aufstehen! Ich habe schon so lange keine nackte Haut mehr an meiner gefühlt! Amy brachte diese innere Stimme energisch zum Schweigen.
Aber sie schaute ihm nach, als er davonspazierte. Debs würde dir folgen und dich hinter einen Rosenbusch zerren, ganz sicher …
Während seiner Abwesenheit redete Alice weiter. »Ich habe Ihre Mutter nie persönlich kennengelernt, Amy, aber man sprach in den höchsten Tönen von ihr, das weiß ich.«
»Vielen Dank«, flüsterte Amy. »Sie sind sehr freundlich.« Sie suchte nach etwas, womit sie das Thema wechseln konnte, eine Maßnahme zum Selbstschutz vor noch mehr Tränen. »Haben Sie Margot Fonteyn je getroffen?«
»Ob ich sie getroffen habe?«, wiederholte Alice. »Ich habe fast zehn Jahre lang ihre Schuhe genäht! Sie war meine Lieblingstänzerin und zudem eine wunderbare Frau! Sie nannte mich immer die Königin der
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