Alle Menschen sind sterblich
weiter; auf beiden Seiten gab es viele Gefallene. Am Abend gelang es dem jüngsten und kühnsten meiner Offiziere, heimlich durch das Gebirge ins Miossenstal zu gelangen; von dort fiel er mit 600 Reitern unter lautem Feldgeschrei über die Nachhut des Herzogs her. Entsetzt über diesen unerwarteten Angriff stürmten die Mailänder in regelloser Flucht davon. Wir hatten 396 Mann verloren, Carmagnola jedoch eine dreimal so große Zahl.
«Jetzt», sagte ich zum Dogen Fregoso, «heißt es keinen Augenblick verlieren. Wir müssen alle Männer von Ligurien unter die Waffen bringen, eure Festungen wieder instand setzen und Boten nach Florenz und Venedig schicken, um sie um Hilfe zu bitten.»
Er schien mich nicht zu hören. Unter dem langen weißen Haar blickten seine Augen in dem ruhigen, edlen Gesicht starr ins Leere hinein.
«Welch ein schöner Tag», sagte er.
Von der mit rosablühenden Lorbeerbüschen und Orangenbäumen beschatteten Terrasse blickten wir auf die größte Straße der Stadt hinab. In Samt und Seide gekleidete Frauen schritten in üppiger Muße im Schatten der Paläste einher; Reiter in goldbestickten Wämsern sprengten übermütig durch die Menge hindurch. Unter einem Säulenvorbau saßen vier Soldaten aus Carmona, elend, schmutzig, erschöpft;sie schauten zu einer Gruppe von jungen Mädchen hin, die mit Burschen plaudernd an einem Brunnen standen.
«Wenn ihr euch nicht verteidigt», rief ich zornig aus, «wird Carmagnola unter den Mauern Genuas sein, ehe es Frühling wird.»
«Ich weiß», sagte Fregoso. Gleichgültig fügte er hinzu: «Wir können uns nicht verteidigen.»
«Ihr könnt es», sagte ich. «Carmagnola ist nicht unüberwindlich, wir haben ihn ja zuvor besiegt. Meine Soldaten sind müde; jetzt seid ihr an der Reihe.»
«Es ist nicht unehrenhaft, Schwäche einzugestehen», sprach er mit sanfter Stimme. Er lächelte. «Wir sind zu weich in unseren Sitten geworden, um nicht den Frieden zu lieben.»
«Welchen Frieden?» sagte ich.
«Der Herzog von Mailand hat uns versprochen, unsere Rechte nach außen zu schützen sowie unsere Freiheit im Innern», sagte er. «Es wird mir sicher schmerzlich sein, auf die Würden zu verzichten, die mir die Stadt verliehen hat; aber ich schrecke nicht vor diesem Opfer zurück.»
«Und was werdet Ihr tun?»
«Abdanken», sagte er würdevoll.
Ich erhob mich und ballte die Fäuste. «Das ist Verrat», rief ich aus.
«Ich darf auf nichts anderes sehen als auf das Wohl meiner Stadt.»
«Und für solche Leute schlagen wir uns jetzt volle sechs Monate lang», sagte ich.
Ich beugte mich über die Brüstung; junge Mädchen trugen duftende Blüten im Haar; sie gingen lachend vorüber; meine Soldaten sahen ihnen mit trüben Blicken nach; ich wußte, was sie vor sich sahen: Straßen aus hartem rötlichem Stein, auf denen die Nobili selbst nur zu Fuß einhergingen; schwarzgekleidete Frauen, die ihre Kinder nährten, währendsie ohne ein Lächeln rasch ihres Weges eilten; kleine Mädchen mit Eimern, die zu schwer waren für ihre Kraft, wie sie den Hügel erklommen; Männer mit vergrämtem Gesicht, die eine dünne Suppe auf ihren Türschwellen aßen; mitten in der Stadt, da, wo einst die alten Viertel gestanden hatten, breitete sich eine Unkrautwüste aus. Wir hatten nie Zeit gehabt, Paläste zu bauen, Zitronenbäume zu pflanzen, zu singen oder zu lachen.
«Es ist nicht recht», sagte ich.
«Der Herzog von Mailand», sagte Fregoso, «wünscht auch mit Euch zu verhandeln.»
«Ich verhandle nicht», sagte ich.
Am gleichen Abend befahl ich meinen Leuten, sich auf den Rückweg nach Carmona zu machen; nicht einer fehlte beim Appell. Ich hörte Stimmen murren hinter den düsteren Mienen: «Wer hat hier eigentlich gesiegt?» Ich konnte es ihnen nicht sagen.
Wir zogen an Pergola vorbei, einer Stadt, nach der ich immer verlangt und die sich immer geweigert hatte, mir untertänig zu werden; um meine enttäuschten Truppen etwas aufzumuntern, beschloß ich, ihnen einen Sieg mit greifbarem Ertrag zum Geschenk zu machen. Ich führte sie unter die Mauern dieser trutzigen Stadt und versprach ihnen, daß die reiche Beute, die sie hier machen könnten, unter sie aufgeteilt werden würde. Pergola war reich, und die Hoffnung auf Beute entflammte noch einmal ihren Mut. Die Stadt war stark befestigt, ihre Ostseite schützte die Mincia; vergebens hatten wir mehrmals sie zu überwinden versucht, sie hatte uns stets widerstanden. Aber ich verfügte jetzt über neue Waffen:
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