Alle Orte, die man knicken kann
aus gemäßigten Zonen zum Opfer. Madrids Autofahrer gelten innerhalb Spaniens als die aggressivsten. Zebrastreifen sind hier nicht Überwege für Fußgänger, sondern eine Aufforderung für Fahrer, bei Rot noch einmal kräftig Gas zu geben, um das Ende des vorderen Staus zu erreichen.
In der Metro. Die Metro gilt als typisch madrilenisch, weil sie mit illegalen Bauarbeitern und gefälschten Materialien errichtet wurde. Die baskische Separatistenorganisation hat erklärt, es ginge gegen ihre Ehre, hier eine Bombe zu legen, da die Tunnel schon von selbst bröckeln. Trotzdem legen wir dem Technikfreak unter unseren Mitreisenden eine Fahrt nahe. Denn in der Metro sind, wie in den Touristenvierteln, buntbekleidete Trupps einesunbekannten Volkes unterwegs, das Handtaschen, Brieftaschen, Rucksäcke, Ringe, Halsketten, Uhren und Handys benötigt. Wer sich wehrt, gilt als
fallecido
oder
muerto
. «Das soll eine tolle Fahrt sein!»
Typisch Madrid
Vergreistes Nachtleben. Vom 25. Lebensjahr an gelten zehn Prozent der spanischen Männer als Alkoholiker. Vorher wird nicht gezählt, danach steigt der Prozentsatz. Diesem Umstand und dem stickigen Tagesklima verdankt Madrid ein emsiges Nachtleben. Weil Spanien das europäische Land mit der stärksten Überalterung ist, sind auch Traditionsraucher und gesetzte Trinker willkommen. Optimal für betagte Reisende: Das Angesagte von gestern und vorgestern kommt immer erst morgen in Madrid an. Nostalgiker können hier die vor Jahren versäumten Trends nachholen.
Ewig junge Diktatur. Die Madrilenen sind stolz: In ihrer Stadt regierte der langlebigste Diktator Europas. Francisco Franco, liebevoll
el gaudillo
genannt,
der Führer
. Er brachte es auf 36 Jahre Alleinregierung (Salazar in Portugal 35 Jahre, Stalin 27 Jahre). Seine Herrschaft endete mit seinem Entschlafen im Alter von 83 Jahren. Sein diktatorisches Gehabe lebt indes fort: im Straßenverkehr, bei den Polizisten, bei den Kellnern, bei den Männern überhaupt. Das
Instituto de la Mujer
fand heraus: Für eine Spanierin im Alter zwischen 16 und 46 seien Verletzung und Tod durch einen Mann wahrscheinlicher als durch Krebs.
Retortenbabys. Spanien ist das Land mit den liberalsten Biomedizingesetzen, Madrid die Stadt mit den meisten Reproduktionskliniken.Eingefrorene Embryonen, gespendete Eizellen, therapeutisches Klonen: Hier gibt es alles. Reproduktionsmedizin und Biotechnologie sind im Kabinett eigens durch eine Ministerin vertreten. Es sind jedoch vorwiegend Ausländer, die zwecks Vermehrung nach Madrid kommen, Paare um die vierzig. Spanien bleibt das Land mit der niedrigsten Geburtenrate, Madrid die Stadt mit den meisten tiefgefrorenen Embryonen.
Unverdauliche Landesspezialitäten
«Nichts ist so deprimierend wie die Tapas-Hysterie der Touristen», seufzte Sterne-Koch Joan Borrás, bevor er seinen Michelin-Stern zurückgab. Er hielt es für schändlich, den Fremden Übriggebliebenes und Zusammengefegtes als Spezialität anzudrehen. Die meisten Barbetreiber hegen diese Skrupel nicht. Sie legen Gammelpilze in Sud, tunken alte Kartoffelscheiben in Mayonnaise, ertränken Sardellen in billigem Industrieöl und klatschen Matschtomaten auf Toast. Das und andere Abfälle verzehren Touristen begeistert, wenn es nur
Tapas
genannt wird. Fehlt noch eine Portion Genmais, dazu Gemüse, das direkt von den verseuchten Anbauflächen um Almería stammt und nicht exportiert werden darf, obendrein der berüchtigte gepanschte Rioja, ein brutales Tortenstück hinterher – und vollendet ist das Glück derjenigen, die es vermeiden. Madrid ist nicht nur wegen der belasteten Luft die Hauptstadt der Allergiker, sondern auch wegen der belasteten Grundnahrungsmittel. Mit der Einnahme von Medikamenten und der Inhalation von Kortikoiden sollte rechtzeitig vor der Reise begonnen werden.
Das reicht für das Expertengespräch
Wer nicht im Prado war und deshalb nicht
Las Meninas
(
Die Hoffräulein
) von Velázquez live gesehen hat, bekommt Glückwünsche vom Bildhauer Alfred Hrdlicka («ein dummes Gemälde») und kann trotzdem mitreden. Auf dem Bild ist eine fünfjährige Königstochter zu sehen, dazu Kindermädchen und Hofzwerge, auch der Maler selbst, das königliche Elternpaar hingegen nur schattenhaft im Spiegel. «Stellt das die Kunst nicht höher als das Königtum?», ist laut Kunsthistoriker Erwin Panofsky eine Frage, die Kennertum beweist und keine weiteren Nachforschungen zur Folge hat. Dazu sollte «echte Betroffenheit»
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