Alle Rache Will Ewigkeit
dann die Leiche? Sie war doch noch ein Kind. Sie hätte weder die nötige Kraft noch das Wissen gehabt, um sie loszuwerden.«
»Das ist auch genau meine Schlussfolgerung. Aber da ich schon mal hier oben bin, kann ich ja trotzdem Howard Calder einen Besuch abstatten. Man weiß ja nie, er könnte das entscheidende Puzzlestück an Wissen haben, ohne jemals dessen Bedeutsamkeit begriffen zu haben.«
Nick lachte. »Du hast zu viele schlechte Romane gelesen.«
»Schuldig im Sinn der Anklage. Ich weiß, es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber hast du etwas Neues von der Telefongesellschaft?«
»Bis jetzt leider nicht. Ich geb dir Bescheid, sobald ich etwas höre. Viel Glück mit Howard.«
Als Charlie am Angel of the North mit seinen kolossalen, segnend ausgebreiteten Stahlschwingen vorbeikam, dachte sie, sie würde wohl mehr als Glück brauchen.
13
A n dem Haus, in dem Jay Stewart ihre Jugend verbracht hatte, war nichts Einnehmendes. Es war das mittlere einer langen Zeile von Reihenhäusern mit schmutzig roten Backsteinen, weder das beste noch das schlechteste, das man hier sah. Die schwarze Tür und der weiße Rahmen waren schmuddelig aufgrund der Kombination von Partikeln der verschmutzten Stadtluft und Sandkörnchen, die der Wind vom nahen Strand hertrug. Die Gardinen hingen schlaff herunter, als sei alles Leben aus ihnen gewichen, und der Lichtschein, der aus dem Oberlicht über der Tür heraus leuchtete, hatte die abschreckend blassgelbe Farbe einer Glühbirne, die zu schwach war für den Raum, den sie beleuchten sollte. Wenn es vor zwanzig Jahren schon so gewesen war, überraschte es Charlie nicht, dass Jay beschlossen hatte, so bald wie möglich von hier zu verschwinden.
Sie drückte auf die Türklingel, die laut und zornig summte. Während sie wartete, schaute sie sich um. Vier Uhr an einem kalten Dienstagnachmittag, und keine Menschenseele weit und breit. Auf der Straße gab es keine Fußball spielenden Kinder, an der Straßenecke hingen keine rauchenden Jugendlichen herum, keine Grüppchen von Senioren, die miteinander schwatzten. Man spürte nichts von dem Leben, das sich hinter diesen Türen abspielte. Überhaupt hatte man nicht das Gefühl einer Gemeinschaft, was Charlie überraschte. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie sich in der Gegend nicht auskannte und die Zeichen nicht lesen konnte.
Hinter ihr öffnete sich die Tür, und sie fuhr herum. Der Mann, der im Türrahmen stand, wirkte irritiert; er hatte die dicken grauen Augenbrauen über den tief sitzenden, durch eine Nickelbrille vergrößert wirkenden Augen zusammengezogen. Er schien fast nur aus scharfen Kanten zu bestehen: schmales Gesicht, eine Nase wie eine Klinge, magere Schultern, knochige Hände – alles eng beieinander. Seine dichten grauen Haare waren an den Seiten des Kopfes so kurz geschnitten, dass Charlie das Graurosa der Kopfhaut erkennen konnte. Die Haut war blass und faltig, und er hatte die Züge eines Menschen, der selten lächelte. »Sind Sie die Frau vom Gemeinderat?«, fragte er mit immer noch lauter und dominierender Stimme.
Charlie lächelte. Bei diesem Mann hatte es keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. »Nein. Ich bin Dr. Charlotte Flint und arbeite mit der Polizei zusammen. Ich hätte gern mit Ihnen über das Verschwinden Ihrer Frau gesprochen.«
Sein finsterer Gesichtsausdruck wurde noch düsterer. »Doktor? Von der Polizei? So was hab ich noch nie gehört.«
»Ich erstelle Profile, Täterprofile. Ich helfe dabei, Beweise gegen Leute zu sammeln, die man schwerer Verbrechen wie Vergewaltigung und Mord verdächtigt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Jenna gefunden haben?« Seine Augenbrauen hoben sich, und er sah fast glücklich aus.
»Tut mir leid, Mr. Calder. Wir haben Ihre Frau nicht gefunden. Ich überprüfe zurzeit einige Fälle von vermissten Personen, die zu einigen der Kriterien eines uns bekannten Täters passen, um zu sehen, ob wir vielleicht noch ungelöste Vermisstenfälle aufklären können.« Sie setzte schnell ein Lächeln auf und hoffte, die Lüge würde der Überprüfung an der Haustür standhalten.
Calder runzelte die Stirn. »Was meinen Sie mit Kriterien? Was für Kriterien?«
»Es tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist vertraulich. Damit könnte ich mir eine Ordnungsstrafe einhandeln, verstehen Sie?« Wenn man die Dinge in genug Gefasel verpackte, fielen die Leute doch auf alles herein – hoffte sie jedenfalls.
»Ich muss Ihren Ausweis sehen, bevor ich
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