Alle Rache Will Ewigkeit
dass sie entschlossen sei, Calder nicht den mindesten Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu geben. Ein Polizeibeamter hatte erwähnt: »Jennifer scheint mit dem Gedanken versöhnt. Sie gibt ihrer Mutter nicht die Schuld und behauptet, sie selbst hätte an ihrer Stelle genauso gehandelt.«
Charlie lehnte sich zurück und ließ das auf sich wirken, was sie gelesen hatte. Aus der Perspektive der Polizei war nichts Verdächtiges an Jenna Calders Verschwinden. Frauen und Männer verließen oft ihre Familien ohne Vorwarnung. Bücher waren über die Schockwirkung geschrieben worden, wenn ein Elternteil oder ein Partner sich vom früheren Leben absetzte. Charlie hatte mit Menschen auf beiden Seiten solcher Geschehnisse gesprochen – mit den Verlassenen und denen, die weggegangen waren –, und sie empfand tiefes Mitgefühl für beide Gruppen. Es geschah öfter, als die meisten Leute für möglich hielten. Es war also nicht überraschend, dass die Sache als relativ unwichtiger Vermisstenfall angesehen wurde.
Aber wenn man es aus einer Perspektive von jemandem betrachtete, der Jay Stewarts Vergangenheit auf mögliche Mordopfer hin untersuchte, sah der Fall schon anders aus. Denn das eine, das einem hier ins Auge sprang, war, dass der betreffende Freitagmorgen, der in
Ohne Reue
geschildert wurde, sich stark von dem Bericht in den Polizeiakten unterschied. Nach dem, was Charlie in Jays Buch gelesen hatte, war Jay zu den Wohnungen gegangen, um ihre Mutter und Rinks zur Rede zu stellen. Aber das Gebäude war abgeschlossen gewesen, und der Hausmeister hatte ihr gesagt, die Arbeiten seien beendet. Sie war nach Haus gegangen, überzeugt, dass sie und ihre Mutter Roker hinter sich lassen und ein neues Leben mit Rinks beginnen würden. Aber sie hatte Jenna nicht gefunden und sie nie wiedergesehen.
Charlie räumte ein, dass Jay die Wahrheit zugunsten einer dramatischeren Handlung vielleicht etwas frisiert haben könnte, obwohl es an dieser Stelle die Qualität der Geschichte nicht verbessert zu haben schien. Aber wenn sie den Besuch beim Zahnarzt erwähnt hätte, wäre eventuell der Schwung verlorengegangen. Und natürlich hatte die Version im Buch den großen Vorteil, dass sie Jay eine dynamischere Rolle zugestand. Statt zum Zahnarzt zu gehen und dann zu Haus vergeblich auf ihre Mutter zu warten, hatte Jay den Ort der unerlaubten Treffen ihrer Mutter mit Rinks aufgesucht.
Der entscheidende Punkt blieb, dass Jay kein Alibi für den Tag hatte, an dem ihre Mutter verschwunden war. Sie war zum Zahnarzt, danach aber nicht in die Schule gegangen. Sie behauptete, nach dem Arztbesuch sei sie den ganzen Tag im Bett gewesen, aber es gab keine Bestätigung dafür. Und überhaupt gab es keine Beweise, dass sie tatsächlich beim Zahnarzt gewesen war, da niemand daran gedacht hatte, es zu überprüfen. Wenn man Jays Aussage bei der Polizei oder die Schilderung für ihre Leser außer Acht ließ, gab es keinen Grund zu glauben, dass Jenna das Haus jemals verlassen hatte.
»Nimm dich zusammen«, sagte Charlie laut, während sie den Papierstapel wieder in die Box zurücklegte. Selbst wenn Jay ihre Mutter in der Wohnung getötet hätte, war es nicht glaubhaft, dass eine Sechzehnjährige, ohne Spuren zu hinterlassen, die Leiche losgeworden sein könnte, bevor Howard Calder von der Arbeit nach Haus kam. Charlie wusste aus ihrer Erfahrung im Umgang mit Mördern, dass es alles andere als leicht war, sich einer Leiche zu entledigen, besonders in einem so dichtbevölkerten Land wie Großbritannien. Wenn Charlie nicht mit einem anderen Szenario aufwarten konnte, saß Jay also doch nicht in der Klemme.
Sie klingelte und wartete, bis Hester Langhope ihr die Tür öffnete. Es gab nur einen anderen Menschen, der ihr vielleicht einen Einblick gewähren konnte. Aber Charlie hatte keine große Hoffnung, dass Howard Calder Aufschluss über das mysteriöse Verschwinden seiner Frau geben würde. Wenn er etwas zu sagen gehabt hatte, hätte er es der Polizei schon vor Jahren gesagt. Aber dank der Polizeiakten hatte sie zumindest eine Adresse.
Während Charlie die A 1 zurück auf Roker zufuhr, rief sie Nick an. »Keine komplette Zeitverschwendung«, berichtete sie. »Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was sie in ihrem Buch schreibt, und der Zeugenaussage bei der Polizei.« Sie umriss das Problem. »Aber es ist eben theoretisch. Weil Jay so oder so von zirka morgens um zehn bis fünf Uhr nachmittags kein Alibi hat.«
Nick erkannte das Problem sofort. »Wo ist
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